Das Geheimnis Des Amuletts
leben.«
»Und wie können wir ihr das Leben geben, das sie verdient hat, jetzt, da sie an der Schwelle zum Tode weilt?«, fragte Miss Scratton ruhig und sah uns der Reihe nach an. Ich fühlte mich unbehaglich. Ich hatte bereitwillig einen Tag meiner Lebensspanne für Sebastian gegeben, so dass er einen weiteren Tag auf der Erde haben konnte, und ich hatte auch einen für Laura geopfert, aber noch ein weiterer Tag – oder auch viele Tage – würde nicht genügen, um Velvet in den Tanz des Lebens zurückkehren zu lassen.
Alle schwiegen. Josh sah mich fragend an. Cal rückte beschützend an Sarahs Seite. Helen stand allein da.
»Ich werde sie ihr geben«, sagte sie mit leiser, zitternder Stimme. »Ich werde meine Lebenskraft für Velvet geben, und ich werde Agnes und Sebastian durch die Tore des Todes folgen.«
»Helen …«
»Bitte versucht nicht, mich daran zu hindern. Ich war bereit, meine gesamte Existenz für meine Mutter zu opfern, die das Opfer nicht einmal verdient hatte. Ich bin glücklich, wirklich richtig glücklich, wenn ich dieses sehr viel kleinere Geschenk Velvet machen kann, die eine zweite Chance verdient hat. Ich fühle so viel Liebe in mir, und ich muss sie jemandem geben. So soll es denn für eine Schwester sein – für Velvet.«
»Aber wir könnten einen anderen Weg finden, um Velvet zu helfen! Wirf dein Leben nicht so weg!«, rief Sarah.
»Ich werfe gar nichts weg. Ich lege eine lange und ermüdende Pflicht beiseite. Sarah, Liebes, ich habe auf dieser Welt niemals eine große Zukunft für mich gesehen. Ich habe nie die Hoffnung gehabt, Karriere zu machen oder Kinder oder andere Dinge zu bekommen, die das Leben gewöhnlich bereithält. Meine Hoffnungen und Träume waren anders. Ich war immer eine, die aus dem Rahmen gefallen ist. Also gebe ich gar nicht so viel auf, verstehst du«, sagte sie mutig, obwohl sich auch ihre Augen mit Tränen füllten. »Es tut mir leid, so leid, dass ich euch allen Lebwohl sagen muss, es tut mir mehr leid, als ich sagen kann. Aber es ist nur für eine kurze Weile. Wir werden uns wiedersehen, in dem Licht, in dem Agnes weilt. Und so werde ich weiterziehen und auf den Großen Schöpfer vertrauen, dass er mich nach Hause geleitet.«
»Was ist mit dem Siegel?«, fragte Miss Scratton. »Kehrst du ihm nicht den Rücken?«
Helen schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid. Ich weiß, dass dies bedeutet, dass ich dem Siegel nicht so dienen kann, wie es möglich gewesen wäre. Aber ich denke, ein unschuldiges Leben zu retten ist wichtiger als alles andere.«
»Indem du das sagst, beweist du nur, dass du wahrhaftig zum Siegel und all dem gehörst, was es darstellt«, sagte Miss Scratton sanft. Sie nahm Helens Hand in ihre, wie eine Mutter es vielleicht getan hätte, und suchte in ihrem Gesicht nach etwas. »Und willst du dann also deine Freunde an den Toren des Todes verlassen und weiterreisen? Du wirst sie vermissen, das weiß ich, bis alle Pfade sich wieder kreuzen. Gibt es noch jemanden, den du vermissen wirst, Helen?«
»Tony, meinen Vater. Ich möchte nicht, dass er trauert. Er war nett, aber zwischen uns herrscht eine zu große Kluft. Es war zu spät, das ist alles. Ich möchte nicht, dass er meinetwegen traurig ist.«
»Für ihn und die ganze weite Welt wird es sein, als hättest du niemals gelebt, wenn dies dein Wunsch ist. Nur diejenigen, die hier stehen, werden sich an dich erinnern. Diese Gnade können die Wächter dir erweisen.«
»Ja, bitte. Das ist es, was ich möchte.«
»Oh, Helen, bist du dir sicher?«, fragte ich und versuchte, nicht zu weinen. »Wie werden wir ohne dich zurechtkommen?«
Sie trat zu uns und umarmte uns der Reihe nach, und ich spürte, wie ihre Kraft mich erfüllte wie der Atem einer Löwin. »Ihr habt einander«, flüsterte sie. »Vergesst das nie. Und danke … danke dafür, dass ich dies mit euch teilen durfte. Aber jetzt ist es Zeit für mich zu gehen. Auf Wiedersehen, meine Schwestern.« Sie griff in ihre Tasche und nahm ein abgenutztes Notizbuch heraus, das sie mir reichte. »Lies es eines Tages«, sagte sie. »Lies es, und erinnere dich an mich.«
Sie wandte sich an Miss Scratton. »Ich bin bereit. Zeigen Sie mir, was ich tun soll.«
»Sofort. Alles wird sich erfüllen. Aber noch einmal, Helen, gibt es noch jemanden, von dem du dich verabschieden möchtest?«
Helen antwortete nicht, aber Sarah rief: »Was ist mit diesem Jungen – diesem Musiker? Was ist mit Lynton? Ich dachte, er würde dich lieben!« Tränen liefen ihr
Weitere Kostenlose Bücher