Das Geheimnis des Roten Ritters
Stimme. Aber immerhin hatte
er ihre Verkleidung nicht durchschaut. »Der Novizenmeister lässt keine Störung zu.«
»Es ist aber äußerst wichtig!« So schnell gab Johanna nicht auf.
»So? Was kann wohl wichtiger sein, als die Heilige Schrift zu studieren?« Der Mönch sah sie unwillig an und Johanna senkte
schnell den Kopf, sodass er ihr Gesicht nicht erkennen konnte. Außerdem fiel es ihr so leichter zu lügen. Gott mochte ihr
verzeihen, dass sie in ihrer Not einfach die Worte des Mönches vom Torhaus wiederholte.
»Es geht um den Ablauf des morgigen Tages«, haspelte sie los. »Der Hoftag beginnt doch morgen mit der Festkrönung des Kaisers
und der Kaiserin. Und der Abt wird … er wird in der Prozession dabei sein … und der Vater von Georg, der edle Ritter Kunibert, er soll doch für den Abt den Palmwedeltragen … und der Abt will, dass Georg seinem Vater hilft … Aber dafür muss Georg doch die Nachricht vom Bischof bekommen. Und deshalb muss ich mit ihm zusammen sofort zum Abt, weil
die Audienz doch noch heute stattfindet!«
Johanna brach der Schweiß aus, bei all dem Unsinn, den sie sich da zusammenreimte. Aber das wirre Zeug schien den Mönch zu
beeindrucken. Angesichts des großen Hoftags wollte niemand einen Fehler machen. So wie Kaiser Friedrich vom Wohlwollen der
Kirche und der mächtigen Kirchenfürsten abhängig war, mussten sich auch umgekehrt die Bischöfe und Äbte die Gunst des Kaisers
sichern.
»Ja, also … wenn das so ist …« Er überlegte. »Ich könnte mit dem Novizenmeister reden. Vielleicht lässt der deinen Vetter zusammen mit seinem Lehrmönch
heraus.«
Johanna runzelte die Stirn. Sein Lehrmönch? War das der Mönch, von dem Georg einmal erzählt hatte, dass dieser Mensch ihn
sogar ins Badhaus und beim Verrichten der Notdurft begleitete? »Die kleben wie Pech an uns Novizen«, hatte Georg geklagt.
»Ich gehe in den Schulraum und bespreche die Angelegenheit. Du kannst draußen warten«, sagte der Mönch.
Johanna lief hinaus und suchte das Fenster, hinter dem sie die Schule vermutete. Es gelang ihr, einen Blick in den Raum zu
werfen.
Sie konnte ein paar Jungen erkennen, einige kaum älter als sechs Jahre, die auf niedrigen Schemeln hockten.
Daneben saßen Mönche, von denen einige wirkten, als würden sie gleich einschlafen. An der Schmalseite des Raums befand sich
ein hoher Stuhl. Darauf saß ein streng aussehender älterer Mönch mit einem Buch auf dem Schoß. Ob das der Novizenmeister war?
Sehr fröhlich schien es dort nicht zuzugehen. Johanna verstand nicht, warum Hagen unbedingt in eine Klosterschule wollte,
um Lesen und Schreiben zu lernen. Seitdem er einmal bei einem Besuch des Klosters Hartenau die dortige Bibliothek sehen durfte,
war er fasziniert von Büchern. Er schwärmte davon, Latein zu lernen und die Schriften von Cicero und Vergil zu lesen. Und
die Benediktiner sollten ja eine noch reichere Bibliothek haben als das Hartenauer Kloster. Hagen hatte ihr erzählt, dass
die Mönche viele Jahre an so einem Buch schrieben und dass es mehr wert war als ein Sack Gold.
Johanna hörte Schritte. Da kam Georg an derSeite eines Mönches, der so dick war, dass er fast so breit wie hoch war. Das musste Georgs Lehrmönch sein.
Was sollte sie nur zu Georg sagen? Wie schaffte sie es, dass er sie nicht aus Versehen verriet?
Egal, sie musste es probieren.
Und so ging Johanna auf Georg zu und sprach ihn an. »Gott mit dir, Georg«, sagte sie und linste unter ihrer Kapuzenmütze hervor.
»Ich bin’s, dein Vetter Hagen.« Sie sah ihn flehentlich an. »Wir müssen sofort zum Palast des Abtes. Du musst uns helfen.«
Für einen kurzen Moment schob sie sich zwischen Georg und seinen Lehrmönch. So leise wie möglich raunte sie ihrem Vetter ins
Ohr: »Schnell! Es geht um Leben und Tod!«
Georg machte ein ratloses Gesicht. Warum gab Johanna sich als Hagen aus? In ihren Augen konnte er lesen, dass er sie nicht
verraten durfte. Sie schien einen geheimen Plan zu verfolgen – einen Plan, in dem er eine wichtige Rolle spielen sollte!
Und so ließ er sich gegen alle Ordensregeln von ihr mitziehen. Im Laufen drehte er sich zu seinem Lehrmönch um. »Verzeihung,
Bruder Josephus«, rief er ihm zu. »Es scheint eine eilige Sache zu sein …«
Der dicke Bruder Josephus watschelte mehr, alsdass er lief. Natürlich konnte er mit dem Tempo der beiden jungen Leute nicht Schritt halten.
»Geduld, Geduld«, schnaufte er und dann
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