Das Geheimnis des Roten Ritters
und darauf waren die Wappen der Edelleute genäht. Zwischen den prächtigen
Zeltbauten der Herren sah man auch einige kleine, flachere Zelte, in denen wohl die Knappen schliefen. Einige Burschen hockten
auf dem Boden und polierten die Rüstungen ihrer Herren.
Beim Anblick der festlichen Zelte vergaß Johanna ihre Müdigkeit. Wie gern hätte sie sich alles in Ruhe angeschaut. Aber sie
war ja hier, um Hilfe zu holen!
Wohin nur mochte Waldemar geritten sein?
Sie bahnte sich ihren Weg durch die Menschenmenge und hielt nach dem Wappen des Vaters Ausschau. Sicher hatte er sein Zelt
mit dem roten Adler auf weißem Grund geschmückt. Die Ritter von Felsenstein hatten dieses Bild einst gewählt, weil oben auf
der Burg Adler nisteten.
Atemlos eilte Johanna durch die Zeltstadt. Sie musste ihren Vater finden! Sie musste es einfach! Egal, wie wütend er auf sie
sein würde – nur er konnte ihr jetzt noch helfen.
»Johanna?!« Plötzlich hörte sie jemand ihren Namen rufen. »Was machst
du
denn hier?«
Sie blieb stehen und sah sich um. Vor einem der Rundzelte stand Waldemar, auf seine Lanze gestützt. Und jetzt erkannte sie
auch das Wappen am Zelt, den roten Adler! Sie tat einen tiefen Seufzer vor Erleichterung. Es war ihr völlig egal, ob der Knappe
nun ein Hanswurst war oder nicht. Endlich hatte sie ein vertrautes Gesicht vor sich!
Waldemar warf ihr einen hochnäsigen Blick zu. »Sag bloß, Hagilein ist auch hier in Mainz?«, hörte sie ihn fragen. »Wenn das
Ritter Karl erfährt …«
Doch sie hatte keine Zeit, sich zu ärgern. Atemlos stürzte sie auf ihn zu. »Wo ist mein Vater?!«, rief sie.
»Im Krankenzelt«, antwortete Waldemar. »Er ist gestürzt, als sein Pferd vor einer Schlange gescheut hat.« Waldemar hob seine
Lanze hoch. »Ich hab sie erlegt. Die hatte keine Chance«, sagte er. »Es war eine äußerst gefährliche …«
Johanna unterbrach ihn ungeduldig. »Ist Vater schwer verletzt?«
Waldemar schüttelte den Kopf. »Sein Fuß muss verbunden werden. Onno ist bei ihm. Aber nun sag schon, was um alles in der Welt
machst du denn hier?« Plötzlich sah er Johanna voller Sorge an. Denn auch wenn sie ihn für einen Dummkopf hielt, so war er
doch klug genug zu ahnen, dass etwas passiert sein musste.
Waldemars fürsorglicher Blick war zu viel für Johanna.
Sie brach in Schluchzen aus. Und dann sprudelte es aus ihr hervor, die Angst um Hagen, den sie vergiftet im Pferdestall zurückgelassen
hatte … die Furcht, dass der rote Reiter ihrem Vetter Georg etwas antun könnte … all die Aufregung der letzten Stunden … dazu der Hunger, der in ihr nagte, und der brennende Durst …
Waldemar verstand kaum etwas von dem, was sie da stammelte. Aber dass sie mit ihren Kräften amEnde war, das verstand er gut. Er nahm seinen ledernen Wasserbeutel und gab ihr zu trinken. Dann holte er einen Apfel und
ein Stück trockenen Käse aus dem Zelt.
»Setz dich«, sagte er. »Und dann erzählst du mir alles noch mal von vorne.«
Johanna griff gierig nach dem Essen, doch sie setzte sich nicht.
»Wir haben keine Zeit!«, rief sie und zwang sich zur Ruhe. »Waldemar, versteh doch, wir müssen ins Kloster der Benediktiner,
sofort! Dieser Dietrich von der Rabenburg ist ein Mörder!«
Waldemars Gesicht verfinsterte sich. Er ahnte, wovon Johanna redete. Natürlich hatte auch er davon gehört, was dem Bischof
passiert war. In der ganzen Zeltstadt gingen die wildesten Gerüchte um. Und der üble Ruf Dietrichs war weit bekannt. Seine
Schulden hatte er oft genug mit dem Schwert bezahlt anstatt mit Geld. Manche Handwerker wagten schon gar nicht mehr, ihren
Lohn bei Dietrich einzufordern.
Dieser Kerl steckte also hinter dem feigen Raubmord auf der Hochstraße? Woher um alles in der Welt wusste ausgerechnet Johanna
das?
Der Knappe trat ratlos von einem Fuß auf denanderen. »Wir müssen zum Krankenzelt gehen und mit Ritter Karl reden«, schlug er schließlich zögerlich vor.
Doch Johanna schüttelte energisch den Kopf. »Dietrich hat doch jetzt schon einen riesigen Vorsprung. Du sollst dich ja nicht
mit ihm schlagen. Aber wir müssen Georg warnen – falls es nicht schon zu spät ist!«
Jetzt kam endlich Leben in Waldemar. Johanna würde schon sehen, dass ein zukünftiger Ritter keine Angst hatte!
»Dann reiten wir eben sofort los. Warte hier, ich hole mein Pferd«, sagte er. »Ich hoffe nur, dein Vater reißt mir nicht den
Kopf ab.«
Schon war er hinter den Zelten
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