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Das Geheimnis des toten Fischers

Das Geheimnis des toten Fischers

Titel: Das Geheimnis des toten Fischers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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Kapitel
1
     
    Der Wind zerrte an meiner Jacke, als
ich näher an das Geländer herantrat. Der nackte, felsenübersäte Abhang des
Potrero Hill senkte sich mehr als fünfzig Meter in die Tiefe, und mein Blick
fiel auf die Dächer der weiter unten stehenden Häuser. Ich drehte mich um, zog
die Jacke fester um meinen Körper und ging dann die Straße entlang. Meinen
Wagen hatte ich am Ende der Sackgasse abgestellt. Glassplitter und anderer
Abfall knirschten unter meinen Schritten.
    Bis auf zwei waren alle Häuser in
diesem Block zum Abbruch bestimmt. Sie ragten stumm in die frühe
Oktoberdämmerung, mit gähnenden Löchern, die früher einmal Fenster gewesen
waren, und gesplitterten Rahmen, die gezackte Silhouetten gegen den dunkler
werdenden Himmel zeichneten. Mich fröstelte, und das nicht nur wegen des
scharfen, kalten Windes.
    Haus Nummer einundzwanzig war von einem
mannshohen Lattenzaun umgeben. Neben dem Tor war die Nummer in geschnitzten Ziffern
angebracht. Ich gelangte durch das Tor in einen ungepflegten Vorgarten, der in
wildwuchernder Vegetation erstickte. Ein Kiesweg, Überhängen von dürren
Palmenwedeln, führte zur Haustür. Ich blieb davor stehen und drückte auf die
Klingel.
    Kaum war das Läuten verstummt, wurde
die Tür einen Spalt geöffnet, und ein blasses, ausdrucksloses Gesicht lugte
über die Sicherheitskette hinweg. »Ja?«
    »Mr. Snelling? Ich bin Sharon McCone,
ich führe die Ermittlungen für die All-Souls-Rechtshilfe.« Gleichzeitig reichte
ich ihm meine Geschäftskarte durch den schmalen Türspalt. Nach ein paar
Sekunden ratterte die Kette, die Tür ging auf, und ich betrat eine im Dunkel
liegende Diele.
    Der Mann hängte rasch wieder die
Sperrkette ein, dann wandte er sich mir zu und streckte mir die Hand entgegen.
»Gut, daß Sie so prompt gekommen sind. Ich bin Abe Snelling.«
    Ich ergriff die schmalgliedrige Hand.
»Freut mich, Sie kennenzulernen. Ich bewundere Ihre Photos.«
    »Danke. Kommen Sie hier entlang.« Er
ging mir voraus durch die Diele und über einen Korridor zur Rückseite des
Hauses. Bis jetzt konnte ich mir noch kein Bild von Snelling machen, außer, daß
er klein war, kleiner noch als ich mit meinen einszweiundsiebzig, und daß sich
sein blondes Haar um den Scheitel zu lichten begann. Ich folgte ihm in einen
mit einem weißen Teppichboden ausgelegten Wohnraum und blieb stehen, um den
Ausblick durch das große Fenster in mich aufzunehmen.
    Im Vordergrund senkten sich die Lichter
des Potrero Hill wie eine Kaskade hinunter zu dem Industriegebiet am Rande der
Bay. Die Umrisse der Lagerhäuser, Öltanks und Schiffe auf den Trockendocks
wirkten weich im sanften Licht der Dämmerung, und dahinter erstreckte sich
glatt und ruhig das Wasser der Bay. Ich schaute hinüber zu den Hügeln auf der
Ostseite der Bay und auf die im Abendlicht funkelnde Brücke, welche die beiden
Küsten miteinander verband.
    »Die Aussicht auf die Bay und die Hügel
ist faszinierend«, sagte ich.
    »Ja, tagsüber vermag ich sie zu
genießen.« Snelling ging zum Fenster hinüber und zog mit einer heftigen
Bewegung die Vorhänge zu. Dann schaltete er zwei Stehlampen ein. Die Wände des
Raumes waren ebenfalls weiß und von Snellings Photographien bedeckt. Die
Einrichtung wirkte streng und modern.
    Ich muß etwas überrascht dreingeschaut
haben, denn Snelling hielt inne und warf mir einen Blick zu, wobei er den Kopf
ein wenig zur Seite neigte. »Ich kann es nicht ertragen, wenn die Vorhänge nach
Einbruch der Dunkelheit nicht vorgezogen sind.«
    »Ja, es sieht jetzt doch ziemlich
düster draußen aus.«
    »Nein, das ist es nicht.« Er deutete
auf einen Sessel. »Es ist wegen der Heckenschützen.«
    »Was?«
    »Ich habe eine lächerliche Angst vor
Heckenschützen.«
    »Ach.« Ich ließ mich in einen
Chromsessel mit Lederbezug nieder, der trotz seines funktionalen Aussehens
überraschend bequem war.
    Snelling nahm auf der anderen Seite des
niedrigen Couchtisches Platz und kramte in seiner Hemdtasche nach einer Packung
Zigaretten. »Es ist wirklich albern, aber als ich noch ein Junge war, hat einer
der Burschen aus der Nachbarschaft seine Mutter erschossen. Sie stand am
Küchenfenster, und er ging hinaus und erschoß sie durch das Fenster mit einem
Jagdgewehr. So etwas hinterläßt oft Eindrücke fürs ganze Leben.«
    »Kann ich mir denken.«
    »Ja, und sehen Sie, seit damals kann
ich es nicht ertragen, wenn die Vorhänge nach Einbruch der Dunkelheit noch
offen sind. Ich weiß, es ist albern, aber ich kann

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