Parasiten
29. Juli 2010
Hamburg.
Andres Puri nimmt einen ersten gierigen Schluck aus dem
Glas. Zu seiner Überraschung schmeckt der Rotwein widerlich. Seine Mundhöhle
brennt, als hätte er Feuer geschluckt. Wütend wirft er das Glas von sich,
sodass es an der Wand zerspringt. »Was hast du mir da reingetan?«, schreit er.
Speichel sammelt sich in seinem Mund, als wolle der das Feuer löschen. Dann
beginnt sein Körper unkontrolliert zu zittern. Er sackt auf die Knie, greift
sich mit beiden Händen an den Hals. Er bekommt schwer Luft, ringt nach Atem,
fällt um. Seine Augen sind panisch aufgerissen. Gift, denkt er, in dem Glas war
Gift. Er will etwas sagen, er will um Hilfe rufen, er will schreien, doch kein
Laut kommt mehr aus seiner Kehle. Das Zucken wird besser. Ein heißes Gefühl
steigt von seinem Steißbein in der Wirbelsäule nach oben und breitet sich im
ganzen Körper aus. Es geht schnell. Er will aufstehen und zum Telefon. Doch er
kann sich nicht bewegen. Nicht einmal den kleinen Finger kann er bewegen. Ihm
bricht Schweiß aus. Er spürt, wie die Tropfen über seinen Körper rinnen. Er
kann alles spüren, aber er kann sich nicht rühren. Keinen Millimeter. Seine
Lunge krampft, vor seinen Augen flimmert es.
Puri wird auf das Bett gewuchtet. Das Laken ist angenehm kühl. Er wird
ausgezogen. Es dauert eine Weile: Schuhe, Socken, Hose, Hemd, Unterwäsche. Was
soll das? Aus dem Augenwinkel sieht er ein Messer aufblitzen. Er hat Angst,
schreckliche Angst. Sein Körper fühlt sich jetzt ganz kalt an. Das Messer
nähert sich seiner Haut. Schlitzt sie auf. Nur ein kleiner Schnitt am Oberarm,
dann noch einer und noch einer. Unterarm, Bein, Lenden, Oberkörper. Überall
werden ihm kleine Schnitte zugefügt. Er wundert sich, denn es tut nicht
sonderlich weh. Aber er kann kaum noch atmen. Er will den Kopf heben, um zu
sehen, was mit ihm passiert, doch er kann nicht. Sein Blick ist auf die
Zimmerdecke gerichtet. Da erscheint eine Hand vor seinen Augen. Zwischen den
Fingern hält sie einen Wurm. Er kringelt sich um den Zeigefinger. Die Hand
verschwindet und kommt wieder. Nun zeigt ihm die Hand einen Käfer. Die Beine
des Käfers zappeln in der Luft.
Auf seiner Haut ist ein Kribbeln zu spüren. Es fühlt sich weit weg
an. Aber er weiß, dass es der Käfer ist. Die Hand zeigt ihm Maden und noch mehr
Würmer und noch mehr Käfer und Tausendfüßler und kleine Spinnen. Es kribbelt
immer mehr. Die Schnitte brennen ein wenig. Es ist nicht schlimm, er nimmt
alles nur dumpf wahr.
Aber er weiß, dass diese Tiere auf ihm herumkrabbeln und sich in
seine Wunden bohren. Er weiß es, und es macht ihn schier wahnsinnig. Ekel
steigt in ihm auf.
Puri weiß nicht, wie lange er da liegt. Lange. Sehr lange. Vielleicht
auch nur ein paar Minuten. Es fühlt sich an wie die Ewigkeit, so muss sich
Ewigkeit anfühlen, denkt er. Die ewige Verdammnis der Hölle. Er kann nichts
tun. Kleine Lebewesen knabbern seinen Leib an, sie kriechen in ihn hinein und
fressen ihn auf. Das Atmen wird immer schwerer. Er hat das Gefühl, dass seine
Augen aus den Augenhöhlen heraustreten, so sehr strengt er sich an, etwas zu
sagen. Er will um Gnade winseln. Er will, dass die Tiere weggenommen werden.
Da legt sich ein Metallseil um seinen Hals.
Etwa zehn Kilometer Luftlinie entfernt sucht Marianne Sund
ihren Ehering. Sie stellt ihre ganze Wohnung auf den Kopf, denn sie hängt an
dem Ring. In zwei Stunden kommt ihr Mann von der Arbeit nach Hause. Wenn er
merkt, dass sie den Ehering verloren hat, wird er schimpfen. Marianne kommt ins
Schwitzen. Bis es ihr plötzlich einfällt: Gestern, beim Putzen in Doktor
Benedikts Haus, da hat sie die Küchenarbeitsplatte aus dänischer Walnuss
eingeölt. Dabei war ihr der Ring vom Finger geglitten. Sie hat ihn neben das
Waschbecken gelegt, sich die Hände gewaschen und dann vergessen, den Ring
wieder anzuziehen, weil Benedikt nach Hause kam und sie nett begrüßte. Ihr Mann
unterstellt ihr sowieso immer, ein wenig verschossen in Benedikt zu sein. Es
wäre besser, den Ring schnell zu holen, statt ihrem Mann zu gestehen, dass sie
ihn bei ihrem Arbeitgeber vergessen hat. Marianne zieht ihre Straßenschuhe und
eine leichte Sommerjacke an, nimmt den Schlüssel zu Benedikts Haus aus dem
Holzschälchen im Flur und fährt sich noch schnell mit der Bürste durch die
Haare. Benedikt ist um die Uhrzeit zwar normalerweise noch nicht zu Hause, aber
falls er es ausnahmsweise doch sein sollte, will Marianne nicht aussehen wie
eine Putzfrau.
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