Das Geheimnis vom Kuhhirtenturm
Über allem lasten Tod und Zerfall. Das war schon seit Anbeginn so, präzise betrachtet seit dem Urknall. Der Mensch hätte sich inzwischen also daran gewöhnen können.
Trotzdem beschlich Herrn Schweitzer ein mulmiges Gefühl. Dabei ging er gerne auf Friedhöfen spazieren, studierte die Grabinschriften und malte sich aus, welche längst vergangenen Lebensgeschichten sich dahinter wohl verbargen. Berufsbezeichnungen wie Dichterin, Rittmeister oder Bäcker beflügelten seine Phantasie, aber auf den wenigsten Grabsteinen stand geschrieben, auf welche Art die Betreffenden ihr Brot zu Lebzeiten verdient hatten. Sehr anregend fand Herr Schweitzer auch die eingemeißelten Geburtsorte. Dann nämlich durchforstete er sein Wissen über jene Gemeinden oder größere Städte und wie es dort wohl zu Lebzeiten des Verblichenen ausgesehen haben mochte. Manche Orte sagten ihm rein gar nichts, bei anderen war es aufgrund der Schreibweise immerhin klar, daß sie irgendwo in Frankreich liegen mußten; wenn nicht dort, dann zumindest in einer Gegend, wo französisch gesprochen wurde. Das konnte dann zum Beispiel Belgien oder eine der ehemaligen Kolonien des Nachbarlandes sein. Dazu fiel ihm immerhin Indochina, Algerien, Martinique und Mocambique ein. Herrn Schweitzer war klar, daß Frankreichs Kolonialreich noch bedeutend größer gewesen war, aber seine Gedanken diesbezüglich machte er sich stets en passant, im Vorbeischlendern sozusagen. Auch empfand er die schattenspendenden Bäume gerade in den Sommermonaten als sehr angenehm. Man hätte meinen können, sie seien extra wegen der Toten gepflanzt worden, um ihre mißliche Lage ein wenig zu lindern. Bänke zum Ausruhen und der ein oder andere hübsch arrangierte Grabschmuck raubten der Endgültigkeit des Todes ihr Entsetzen. Waren Frau und Mann zusammen beerdigt worden, ging ihm das Herz auf, auch wenn er nicht wissen konnte, ob die Ehe vielleicht in Bahnen verlaufen war, die ein Ableben erstrebenswert gemacht hatte. Oft mußte er dann auch an seine Maria denken und daran, daß es mal wieder Zeit war, ihr einen Blumenstrauß als Zeichen seiner Liebe mitzubringen oder sie zum Essen einzuladen.
An all das dachte Herr Schweitzer, während er dem Sarg folgte. Er war nicht ganz freiwillig hier. Eigentlich wünschte er sich ein paar hundert Meter vom Südfriedhof entfernt in den Bungalow seiner Freundin. Der hatte einen wunderschönen gemütlichen Atriumsgarten, wo eine extrem belastbare Hängematte, Herr Schweitzer hatte schon wieder zugelegt, seiner harrte. Im Kühlschrank stand ein leckerer Erdbeersaft und in absehbarer Zeit hätte er sich einen kleinen Joint gegönnt und wäre, so wie es Usus war bei Sommerwetter, gemütlich hinfortgedämmert.
Aber heute würde er wohl oder übel auf seinen heiligen Mittagsschlaf verzichten müssen. Herr Schweitzer war einer der letzten in der langen Prozession. Hinter ihm folgte noch eine kleine Gruppe von vier oder fünf Personen. Neben ihm lief sein Kumpel Ferdi, der Taxifahrer. Auch der Tote, von dem er im Moment nur den Vornamen wußte, war Taxifahrer in Frankfurt gewesen. Die schwarzen polierten Schuhe vor ihm gehörten Bertha, der ältlichen Wirtin seiner Stammkneipe, wo der Tote seit knapp einem Jahr regelmäßig eingekehrt war. Und Bertha war es auch gewesen, die ihm eindringlich ins Gewissen geredet hatte, bei der Beerdigung teilzunehmen. Das könne er, Simon, doch nicht machen, einfach fortzubleiben bei so einem Ereignis, immerhin habe er mit Jens doch so manche Nacht durchzecht. Das stimmte nicht ganz, hatte Herr Schweitzer da gedacht, allenfalls ein paar Sätze hatte man in den paar Monaten gewechselt, aber er gestand sich auch ein, daß Bertha irgendwie recht hatte. Und bevor er sich mit der resoluten Wirtin auf eine längere Diskussion einließ, bei der er sowieso den Kürzeren ziehen würde, hatte er sich breitschlagen lassen. Zumal Bertha hernach die Stammgäste noch ins Weinfaß geladen hatte. Schnitzel und Bratkartoffeln, Gurkensalat und Freiwein bis zum Abwinken hatte ihr süßes Versprechen noch gestern abend gelautet, auf daß auch wirklich niemand der Grablegung fernbleibe. Herr Schweitzer kannte Berthas Schnitzel. Im Weinfaß gab’s zwar außer Erdnüssen und ein paar anderen Snacks nur Trinkbares, aber er war schon privat in den Genuß von Berthas Spezialität gekommen. Und wenn er ehrlich zu sich war, und das war er, würde Herr Schweitzer sogar den ganzen Vormittag mit Beerdigungen verbringen, nur um sich Berthas
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