Die Legende der Wächter 10: Der Auserwählte (German Edition)
Die beleibte Nesthälterin Oktavia glitt aus der Baumhöhle und ringelte sich um einen Ast. „Ich bin zwar blind, aber mir ist nicht entgangen, dass ihr schon den ganzen Morgen hier draußen sitzt. Warum seid ihr nicht in euren Schlafhöhlen?“, wandte sie sich an die Elfenkäuzin Gylfie, den Bartkauz Morgengrau und den Höhlenkauz Digger. Die drei gehörten zur sogenannten Viererbande. Der Vierte im Bunde, der Schleiereulerich Soren, fehlte.
Eine Fleckenkäuzin kam angeflogen und landete ebenfalls auf dem Ast. „Und jetzt auch noch du, Otulissa! Was willst du denn hier?“, fragte Oktavia.
„Das Gleiche wie die anderen. Darauf warten, dass Soren herauskommt. Er hockt schon tagelang in Ezylrybs Kammer und liest!“
Zwei Schleiereulenmännchen streckten die Köpfe aus dem Einflugloch der Höhle. „Was ist denn hier los?“ Es waren Soren und sein Neffe Coryn, der neue König im Großen Baum.
„Oktavia hat gefragt, was wir hier wollen.“ Otulissa antwortete so ungezwungen, als hätte sie nicht den König und seinen engsten Berater vor sich. Coryn schien das nicht zu stören. Otulissa und ihn verband eine besondere Beziehung. Die Fleckenkäuzin hatte Coryn seinerzeit in den Hinterlanden aufgespürt. Dorthin war er vor seiner tyrannischen Mutter Nyra und ihren Anhängern, den Reinen, geflohen. Otulissa hatte Coryn im Glutsammeln unterwiesen. Dass er anschließend die Glut von Hoole aus dem Vulkan geborgen hatte, hatte Coryn aber allein seiner Sehergabe zu verdanken.
„Worum geht es denn, Otulissa?“, fragte Coryn.
„Wir interessieren uns auch für die alten Legenden. Wir wollen sie zusammen mit dir und Soren lesen.“
Gylfie raunte Digger zu: „Was heißt hier ‚wir ‘ ? Immer muss sie sich einmischen!“
„So ist sie nun mal“, erwiderte Digger seufzend.
„Ich unterrichte schließlich Ga’Hoolologie“, fuhr Otulissa fort. „In meinen Stunden geht es um die Geschichte des Großen Baums.“
Soren blickte seinen Neffen fragend an. Was Otulissa sagte, war richtig, aber die Entscheidung lag bei Coryn.
Für Coryn war Soren viel mehr als nur sein Onkel. Soren war sein Mentor und Ratgeber. Er half Coryn, sich in die ungewohnte Rolle als König hineinzufinden.
Nach kurzem Zögern erwiderte Coryn: „Ich habe nichts dagegen. Du kannst gern dazukommen, Otulissa. Ihr drei anderen natürlich auch. Aber ich warne euch. Die Legenden aus Ezylrybs Privatbibliothek sind nichts für schwache Nerven. Sie enthalten Wahrheiten, von denen eure Mägen erschauern werden.“
Er wollte noch etwas anfügen, unterließ es dann aber. Sollen sie doch selbst herausfinden, was es mit meiner Mutter auf sich hat, dachte er.
„Seid um Mitternacht wieder hier.“ Er wandte sich an Soren: „Wäre es wohl möglich, den Nachtflug heute abzukürzen? Dann könnten wir schon etwas eher mit der Lesung beginnen.“
Er hat sich immer noch nicht daran gewöhnt, dass er König ist, dachte Soren. Er braucht meine Zustimmung nicht einzuholen. Was er entscheidet, wird gemacht.
Das war auch Coryn bewusst. Aber Soren war der langjährige Anführer der Viererbande. Coryn wollte ihn nicht übergehen. König zu sein, erfordert wirklich große Diplomatie , dachte er. „Der Nachtflug endet heute früher“, verkündete Coryn schließlich. „Bevor wir mit der zweiten Legende anfangen, wird Soren euch den Inhalt der ersten Legende zusammenfassen.“
Kurz nach Mitternacht trafen sich die sechs Eulen in der Geheimkammer hinter Ezylrybs Wohnhöhle. Dort hatte der ehrwürdige Kreischeulerich seinen kostbarsten Besitz verwahrt: drei uralte Bücher. Auf dem Sterbelager hatte er Soren und Coryn aufgefordert, diese Bücher gründlich zu studieren.
Nun schauten die anderen Eulen ehrfürchtig zu, wie Soren den zweiten Band von einem Wandbord holte. Der Einband aus Mäuseleder war brüchig und abgeschabt. Doch als Soren mit dem Flügel den Staub wegfegte, blinkten die goldenen Buchstaben des Titels wie lauter ferne Sterne, deren Licht nach langer Reise die Erde erreicht. DIE LEGENDEN VON GA ’ HOOLE stand in großer Schrift auf dem Bucheinband und darunter, etwas kleiner: HOOLES FRÜHE JAHRE .
Soren schlug die erste Seite auf und wandte sich an seine Freunde: „Bevor ich anfange vorzulesen, solltet ihr eines wissen: Weder Coryn noch ich haben eine Ahnung, wer der Verfasser dieses zweiten Bandes ist.“
Es war die längste Nacht des Jahres. Auf einem zugefrorenen Fjord blickte eine Fleckenkäuzin dem Tod ins Auge. Mit gezücktem Eisdolch
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