Das Geheimnisvolle Haus : Kriminalroman
ich bin nun gezwungen, im Gegensatz zu meinen eigenen Überzeugungen zu handeln. Es fällt mir sehr schwer, Ihnen dies alles zu sagen, aber ich kenne Ihren vornehmen, großzügigen Charakter, Ihre Freundlichkeit und Güte, und ich weiß, daß Sie den Aufruhr der Gefühle verstehen werden, der mich jetzt bestürmt.« Poltavo legte den Brief auf den Tisch zurück. Er ging im Zimmer auf und ab, ohne ein Wort zu sagen. Dann wandte er sich ihr plötzlich zu.
»Madonna«, sagte er mit weichem, südländischem Akzent (er hatte seine Jugend in Italien verlebt), »wenn ich an Frank Doughtons Stelle wäre, würden Sie dann auch zögern?«
Sie sah ihn bestürzt an, und er erkannte sofort, daß er einen Fehler gemacht hatte. Er hatte ihr Vertrauen und ihre Sympathie mit einem tieferen Gefühl verwechselt, das sie ihm nicht entgegenbrachte. In diesem einen Blick las er mehr, als sie selbst wußte, nämlich, daß sie im Innersten ihres Herzens Frank erwählt hatte. Er hob die Hand, um ihr die Antwort zu ersparen. »Sie brauchen es mir nicht zu sagen«, meinte er lächelnd. »Vielleicht werden Sie später einmal klar erkennen, daß in der Liebe des Grafen Poltavo die größte Verehrung lag, die Ihnen jemals gezollt wurde, denn Sie sind die große Liebe meines Lebens, die frei ist von Niedrigkeit und anderen Motiven.«
Seine Stimme zitterte, und vielleicht glaubte er im Augenblick selbst an seine Worte. Er hatte ähnlich schon zu anderen Frauen gesprochen, die er längst vergessen hatte.
»Wir müssen nun auf Mr. Doughtons Antwort warten«, sagte er dann kurz.
»Ich habe seine Antwort schon erhalten - er hat mich angerufen.«
Poltavo lächelte.
»Ein typischer Engländer - beinahe ein Amerikaner in seiner Eile. Wann wird denn nun das glückliche Ereignis stattfinden?« fragte er scherzend.
»Bitte, sprechen Sie nicht so« - sie hob ihre Hände und bedeckte ihr Gesicht -, »ich weiß selbst jetzt noch nicht, ob ich die Kraft haben werde, die Wünsche meines Onkels zu erfüllen.«
»Wann?« fragte er noch einmal.
»In drei Tagen - Frank wird eine besondere Genehmigung erhalten. Wir werden -« Sie zögerte. »Wir werden nach Paris gehen«, sagte sie dann und errötete dabei. »Aber Frank wünscht, daß wir -«, sie hielt wieder inne, sprach dann aber beinahe trotzig weiter, »daß wir getrennt leben sollen, obwohl es uns nicht möglich sein wird, diese Tatsache geheimzuhalten.«
»Ich verstehe. In diesem Punkt zeigt Mr. Doughton ein Feingefühl, das ich in hohem Maße anerkennen muß.«
Wieder packte sie ein gewisser Widerwille gegen seine Art. Die väterliche Anmaßung in seinem Ton und seine Einbildung waren durch nichts gerechtfertigt. Daß er Franks Verhalten in dieser selbstherrlichen Weise billigte, empfand sie beinahe als eine Unverschämtheit.
»Haben Sie schon darüber nachgedacht«, fragte er nach einer Weile, »was wohl geschehen würde, wenn Sie Frank Doughton nicht heiraten und den Wunsch Ihres Onkels nicht erfüllen würden? Wissen Sie, welches Unglück ihn dann treffen würde?«
»Ich weiß es nicht«, sagte sie offen. »Ich ahne jetzt dunkel seinen wirklichen Charakter. Ich dachte immer, er sei ein freundlicher und wohlwollender Mann gewesen. Nun weiß ich aber, daß er -« Sie hielt inne, und Poltavo vollendete den Satz, den sie soeben begonnen hatte.
»Sie wissen jetzt, daß er ein Verbrecher ist, ein Mann, der seit Jahren die Furcht und die Leichtgläubigkeit seiner Mitmenschen in der brutalsten Weise ausnützt. Das muß für Sie eine furchtbare Entdeckung gewesen sein, Miss Gray. Aber schließlich werden Sie ihm verzeihen, daß er Ihnen Ihr Vermögen gestohlen hat.«
»Ach, es ist alles so schrecklich - mit jedem Tag wird es mir klarer. Meine Tante, Lady Dinsmore, hatte recht.«
»Lady Dinsmore hat immer recht«, sagte er leichthin. »Das ist ein Vorrecht ihres Alters und ihrer Stellung. Aber inwiefern hatte sie denn recht?«
»Ich glaube nicht, daß es schön von mir ist, Ihnen das zu sagen, aber ich muß es tun. Sie glaubte, daß Mr. Farrington in dunkle Geschäfte verwickelt war. Sie hat mich von Zeit zu Zeit gewarnt.«
»Wirklich eine bewunderungswürdige Frau.« Es lag eine leise Ironie in seinem Ton. »In drei Tagen«, fuhr er dann nachdenklich fort. »Nun, in drei Tagen kann sich noch viel ereignen. Ich muß gestehen, daß ich gerne wissen möchte, was geschieht, wenn diese Heirat nicht stattfindet.«
Er wartete nicht auf ihre Antwort, sondern verließ mit einer kurzen Verbeugung das
Weitere Kostenlose Bücher