Das Gelübde einer Sterbenden
zu mir kommen.«
Nachher, als das Kind herausgegangen war, bewegte sie wieder den Kopf. Mit weit geöffneten Augen, die Lippen fest aufeinander gepreßt, machte sie eine verzweifelte Anstrengung, um noch eine Weile das Leben festzuhalten und nicht früher von hinnen zu gehen, bis ihr Mutterherz beruhigt sei.
Man hörte jetzt nicht mehr das Lachen der Kinder auf dem Boulevard, und die Bäume hoben sich in düsteren Massen von dem blaßgrauen Himmel ab. Die Geräusche der Stadt stiegen undeutlicher herauf. Die Stille nahm zu, man vernahm nur die langsamen Atemzüge der Sterbenden, und ein unterdrücktes Schluchzen, das von einer Fensternische herkam. Dort weinte, durch die Gardine verborgen, ein achtzehnjähriger, junger Mann, Daniel Raimbault, der so eben in das Zimmer gekommen war und sich nicht bis an das Bett vorgewagt hatte. Da die Krankenwärterin sich auf einige Zeit entfernt hatte, war er unbeachtet in seinem Winkel stehen geblieben.
Daniel war ein von der Natur vernachlässigtes Wesen, das man höchstens auf fünfzehn Jahre geschätzt hätte. Nicht gerade verkrüppelt, aber seine mageren Gliedmaßen waren auf ganz vertrackte Weise in die Gelenke eingefügt. Seine blonden, beinah gelben Haare hingen in Strähnen herab und umrahmten ein langes Gesicht mit großem Munde und hervorstehenden Backenknochen. Indessen nahmen seine breite und hohe Stirn und seine sanft blickenden Augen zu seinen Gunsten ein. Aber die jungen Mädchen lachten über ihn, wenn er auf der Straße vorbeiging, namentlich wegen seiner ungeschickten, über die Maßen verlegenen Körperhaltung.
Frau von Rionne war die gute Fee seines Lebens gewesen. Sie hatte ihn heimlich mit Wohlthaten überhäuft und als er endlich vor sie hintreten durfte, um ihr zu danken, hatte er sie auf dem Sterbebett gefunden.
Er stand also hinter der Gardine und brach jetzt, unfähig seinen Kummer länger in den Schranken zu halten, in ein lautes Geschluchz aus. Bianca hörte diese Klagelaute und richtete sich halb auf, um nach dem Fenster hinzusehen.
»Wer ist da?« fragte sie. »Wer weint hier in meinem Zimmer?«
Da trat Daniel vor und kniete an ihrem Bett nieder. Blanca erkannte ihn.
»Ach, Sie sind’s, Daniel. Stehen Sie auf, lieber Freund, und weinen Sie nicht so.« Daniel vergaß seine Furchtsamkeit und Blödigkeit. Der Ueberschwang seiner Gefühle verlieh ihm Worte.
»O gnädige Frau,« rief er in herzzerreißendem Jammer und mit flehentlich ausgestreckten Händen, »lassen Sie mich auf den Knieen liegen und weinen. Ich war heruntergekommen, um Sie zu sprechen. Da hat mich der Kummer überwältigt, so daß ich meine Thränen nicht zurückhalten konnte. Ich war ungestört in dem Winkel und ich fühle mich gedrungen, Ihnen zu sagen, wie gut Sie sind und wie sehr ich Sie liebe. Seit über zehn Jahren habe ich geahnt, wem ich alles verdanke, seit über zehn Jahren schweige ich und droht mir das Herz zu zerspringen, von all der dankbaren Liebe, die ich für Ihre Güte empfinde. Also lassen Sie mich weinen. Wie oft habe ich an die selige Stunde gedacht, wo ich so vor Ihnen knieen dürfte! Es war ein Traum, der mich für die Bitternisse meiner Kindheit tröstete. Ich gefiel mich darin, mir die Zusammenkunft mit Ihnen bis in die geringsten Einzelheiten auszumalen. Ich stellte mir Sie schön und glücklich vor; dachte mir aus, wie Sie blicken, welche Bewegungen Sie machen würden. Und nun liegen Sie so da! Ich wußte nicht, daß man zweimal eine Waise werden kann!«
Seine Stimme brach sich in seiner Kehle. Blanca betrachtete ihn bei dem letzten Tageschimmer und fühlte sich etwas getröstet und gestärkt Angesichts einer solchen Verehrung und solchen Kummers. So war sie doch in ihrer Todesstunde für ihr gutes Werk belohnt.
Daniel fuhr fort:
»Ich verdanke Ihnen Alles und habe nichts, als meine Tränen, als Beweis meiner Ergebenheit. Ich betrachtete mich als Ihr Werk und wollte, daß dieses Werk ein gutes und schönes sein solle. Mein ganzes Leben, sagte ich mir, müßte der Dankbarkeit geweiht sein und Sie sollten dermaleinst noch stolz auf mich sein. Und nun habe ich nur wenige Minuten, um Ihnen zu sagen, was ich empfinde. Ich fürchte, Sie halten mich für undankbar, denn ich bin mir wohl bewußt, daß ich nicht beredt bin und nicht auszudrücken verstehe, was mein Herz bewegt. Aber ich habe immer einsam gelebt und verstehe nicht, die Worte zu setzen. Was soll blos aus mir werden, wenn Gott nicht Erbarmen hat mit Ihnen und mit mir?«
Frau von Rionne
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