Moorseelen
PROLOG
Im Traum stehe ich wieder vor den Pforten der »Oase«. Es ist Sommer und die dunkelgrünen Blätter der Bäume zittern im warmen Wind, der wie eine verstohlene Liebkosung über meine Haut fährt. Unter meinen Fußsohlen spüre ich die staubige, sonnenwarme Erde, als ich barfuß den Weg zwischen den wenigen schlichten Häusern entlanggehe. Nur die atemlose Stille eines heißen Sommertags empfängt mich, kein Singen, kein Trommeln sind zu hören. Niemand sitzt auf den Stufen, um Schmuck zu basteln, kein Tonkrug steht zum Trocknen auf dem Regalbrett vor der Töpferwerkstatt. Die Oase wirkt im gleißenden Licht der Sonne so weiß und tot wie ein ausgebleichter Tierknochen in der Wüste. Trotzdem laufe ich weiter, auf der Suche nach dir. Ich darf nicht zweifeln, nicht fragen, denn nur so werde ich in deiner Welt zugelassen. Im Geiste sage ich deinen Namen wie eine Beschwörung. Als könnte allein der Klang der Silben dich herbeirufen und mich vergessen lassen, was am Ende zwischen uns war.
Dann sehe ich einen Lichtschimmer aus dem Versammlungshaus und mein Herz macht ein paar schnelle Schläge. Hier werde ich dich finden. Ich beschleunige meine Schritte und öffne die Tür. Doch der Raum ist leer. Als ich eintrete, empfängt mich ein feuchter, weicher Untergrund. Ich blicke an mir hinunter: Statt des alten Holzbodens mit den knarrenden Dielen, quillt kalter Schlamm zwischen meinen Zehen hervor. Das matte Licht kommt vom Vollmond am Himmel, dessen blausilberner Schein kalt durch die Fenster ins Zimmer fällt. Die runde Scheibe spiegelt sich verschwommen auf einer schmutzig braunen Fläche – dem Moorsee. Ich sehe genauer hin und mein ganzer Körper wird kalt und starr: Unter der Wasseroberfläche treiben blasse Gestalten. Jetzt erkenne ich auch ihre Gesichter – Urs, Mia, Lukas, Kali und alle anderen aus der Oase. Ein Schrei formt sich in meinem Inneren, doch ich bekomme keinen Ton heraus. Es ist, als ob der Schlamm meine Kehle verstopft. Panisch versuche ich, zurückzuweichen, doch ich stecke bereits bis über die Knöchel in dem zähen Schlick, der mich unerbittlich festhält, um mich in einem sanften, aber stetigen Sog nach unten zu ziehen. Verzweifelt zerre ich gebückt mit beiden Händen an meinem Fuß, nur von dem Gedanken getrieben, hier wegzukommen. In dem Moment strecken sich mir aus dem Moorsee bleiche Hände entgegen –
ihre
Hände. Aber nicht, um mir zu helfen. Die fischweißen Finger, zwischen denen glitschig-dunkelgrüne Algen kleben, greifen nach mir, weil sie möchten, dass ich wieder zu ihnen gehöre. Sie wollen mich zu sich nach unten ziehen, in die Tiefe des Moorsees, dieses sumpfigen Sarkophags, der die Seele auslöscht, den Körper aber für immer als leblose Hülle bewahrt …
Mit einem erstickten Laut fahre ich hoch. Es dauert mehrere Sekunden, bis ich realisiere, dass ich in meinem eigenen Bett liege, weit weg von der Oase.
Es ist vorbei, Feline
, rede ich mir selbst gut zu. Ich wiederhole den Satz so lange, bis das Zittern meiner Hände nachlässt und der kalte Schweiß auf meinem Körper trocknet. Als ich aber im Badezimmerspiegel in mein blasses Gesicht sehe und die Angst in meinen Augen erkenne, frage ich mich, ob jemals die Zeit kommen wird, in der ich nicht mehr jeden Tag an die Oase denke. Und an dich. Wie ein Jäger hast du die Stadt durchstreift, auf der Suche nach leichter Beute. Und die war damals ich.
Kapitel 1
»Feline, ich muss mit dir reden!«
O Gott. Mein Vater hatte seine Beamtenmiene aufgesetzt und
sprach in der Tonlage »höherer Vorgesetzter«. Das verhieß nichts Gutes. Es klang
vielmehr danach, als hätte er Post gekriegt. Keine hübsch bunte Ansichtskarte
mit Meer und einer wohlgenährt-selbstzufriedenen Möwe vorne drauf, sondern einen
Umschlag von der Direktion meines Gymnasiums. Inhalt: ein Verweis wegen
»Respektlosigkeit gegenüber einer Lehrkraft«. Soll’s noch konkreter sein? Bitte
schön: Unser dicker Mathelehrer hatte mal wieder behauptet, dass wir ein Haufen
hoffnungsloser Fälle seien. Als er uns über seine beachtliche Bierplauze hinweg
musterte und auch noch maulte, eigentlich müsse er bei so einer anstrengenden
Klasse sofort Urlaub machen, war mir vor versammelter Klasse rausgerutscht:
»Aber nicht in Japan. Dort jagen sie Wale mit Harpunen!«
Die Folge war brüllendes Gelächter meiner Mitschüler
gewesen – und eben jener Verweis von Bauer an die Adresse meines Vaters.
»Du hast im Unterricht offenbar mal wieder eine dicke
Lippe riskiert.
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