Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
singen konnte, auf das sie ihr ganzes Leben gewartet hatte. Von jetzt an würde esnicht mehr nur ums Überleben gehen. Und in diesen neuen Tag würden sie gemeinsam treten.
Ga erwiderte den Blick des Geliebten Führers und verspürte doch keine Angst, als er in die Augen des Mannes sah, der das letzte Wort behalten würde. Ga fühlte sich sogar seltsam unbeschwert. So hätte ich mich mein ganzes Leben lang gefühlt, wenn du nicht gewesen wärst , dachte Ga. Ga war voller Entschlossenheit; Anweisungen nahm er jetzt nur noch von sich selbst entgegen. Was für ein seltsames, neues Gefühl das war. Vielleicht hatte Wanda das gemeint, als sie den gewaltigen Himmel von Texas betrachtet und ihn gefragt hatte, ob er sich frei fühle. Freiheit konnte man wirklich fühlen, jetzt wusste er es. Sie kribbelte in seinen Fingern, rasselte in seinem Atem und ließ ihn auf einmal all die Leben vor sich sehen, die er hätte leben können, und das Gefühl verließ ihn selbst dann nicht, als Kommandant Parks Männer ihn niederschlugen und an den Füßen zu einer wartenden Krähe hinüberschleiften.
BÜRGER , schart euch um eure Lautsprecher! Ihr hört nun die letzte Folge der Besten Nordkoreanischen Kurzgeschichte dieses Jahres, die wir aber genauso gut die Beste Nordkoreanische Kurzgeschichte Aller Zeiten nennen könnten! In diesem großen Finale tritt zwangsläufig auch Unerfreuliches auf den Plan, liebe Mitbürger. Wir empfehlen euch also, nur in Gesellschaft zuzuhören. Sucht die Nähe eurer Kollegen in der Fabrik. Umarmt den Fremden neben euch in der U-Bahn. Wir möchten euch auch raten, die Ohren unserer jüngsten Genossen vor der heutigen Sendung zu schützen, da sie noch nicht ahnen, zu welchem Frevel der Mensch imstande ist. Ja, heute lassen die Amerikaner ihre Bluthunde von der Kette! Also kehrt das Sägemehl auf dem Boden der Mühlen zusammen, zupft Watte aus den Motoren der Webmaschinen – ihr müsst die unschuldigen Ohren der Kleinen verstopfen.
Der Tag war gekommen, da das arme amerikanische Rudermädchen, das von unseren furchtlosen Fischersleuten aus den tückischen Wogen der hohen See gerettet worden war, heimkehren musste. Ihr erinnert euch noch gut an den jämmerlichen Anblick, den die Amerikanerin bot, bevor Sun Moon sie badete. An diesem Tag aber trug das Rudermädchen die Haare in einem langen Zopf, den Sun Moon ihr selbst geflochten hatte. Natürlich konnte kein noch so prächtiger goldener Chosŏnot diese gebeugten Schultern und plumpen Brüste verbergen. Doch das Rudermädchen wirkte zumindest gesünder, seit sie von wohlschmeckender, nahrhafter Hirse ernährt wurde. Und nachdem der Geliebte Führer sie streng zur Keuschheit ermahnt hatte, wirkte sie auf der Stelle weiblicher, mit ernstem Gesicht und aufrechter Haltung.
Dennoch war es ein trauriger Abschied, da sie nach Amerika zurückkehren musste, in eine Welt der Analphabeten, Hunde und bunten Kondome. Wenigstens würden ihr die Schreibhefte Anleitung schenken, die sie selbst mit den Weisheiten und dem Witz des Geliebten Führers gefüllt hatte. Und wir müssen es zugeben: Sie gehört nach Hause zu ihrem Volk, auch wenn sie dort in einem Land leben muss, in dem nichts umsonst ist – weder Meeresalgen noch Sonnenbräune noch eine einfache Bluttransfusion.
Malt euch aus, mit welcher Pracht unser hochverehrter Generalissimus Kim Jong Il die Yankees empfing, die nach Pjöngjang geflogen kamen, um ihr junges Rudermädchen heimzuholen. Im Geiste vorbildlicher Zusammenarbeit war der Geliebte Führer willens, einen Tag lang zu vergessen, wie die Amerikaner Pjöngjang mit Napalm bombardiert hatten, wie sie den Haesang-Damm zerstört hatten, wie sie in Nogeun-ri Zivilisten mit Maschinengewehren niedergemäht hatten. Im Interesse der beiderseitigen Freundschaft wollte der Geliebte Führer die Rede nicht auf die Untaten bringen, die von amerikanischen Kollaborateuren im Gefängnis Daejeon oder während des Aufstands auf Jeju verübt worden waren, ganz zu schweigen vom Ganghwa-Massaker und den Massenmorden in der Kobaltmine Kyung San. Nicht einmal das Bodo-League-Massaker oder die Misshandlung der Gefangenen nach der Schlacht um den Busan-Perimeter würde er erwähnen.
Nein, besser war es, die Vergangenheit einmal auf sich beruhen zu lassen. An diesem Tag wollten alle an tanzende Kinder denken, an lebhafte Akkordeonklänge und an die Freuden der Großmut, denn an diesem Tag ging es um mehr als nur einen fröhlichen Kulturaustausch: Der Geliebte Führer verfolgte
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