Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
blutenden Wunden und malte von außen inspirierende Slogans an die Flugzeugscheiben. In blutroter Spiegelschrift erinnerte er Sun Moon an die ewige Liebe, die der Geliebte Führer für sie – nein, für jede Bürgerin und jeden Bürger der Volksrepublik Korea! – empfindet, und stärkte so ihren Widerstand. Hinter den Scheiben drohten die Amerikaner Kommandant Ga mit wütenden Gesten, aber nicht einer hatte den Schneid, hinaus auf den Flügel zu steigen und wie ein Mann gegen ihn anzutreten. Stattdessen erhöhten sie ihr Tempo, bis das Flugzeug mit unglaublicher Geschwindigkeit dahinraste, und versuchten dann, ihren hartnäckigen Gast durch Ausweichmanöver und Luftakrobatik abzuschütteln, aber kein Überschlag konnte einen entschlossenen Kommandanten Ga aufhalten! Er duckte sich tief und klammerte sich an der Vorderkante der Tragfläche fest, während das Flugzeug sich über dem verzauberten Myohyang-Gebirge und dem Himmelssee in die Höhe schraubte, der in der Umarmung der überfrorenen Gipfel des Heiligen Ahnenbergs Paektu daliegt. Doch über der Gartenstadt Ch'ŏngjin verlor Ga schließlich das Bewusstsein.
Dass wir unsere Geschichte zu Ende erzählen können, verdanken wir allein der gewaltigen Reichweite der nordkoreanischen Radaranlagen.
Auch in der kalten, dünnen Luft lockerten die halb erfrorenen Finger Kommandant Gas nicht ihren Griff. Doch die Bluthunde hatten ihm zugesetzt – unser Genosse verlor an Kraft. In diesem Augenblick trat Sun Moon mit zerzaustem Haar und verunstaltetem Gesicht ans Fenster und sang ihm mit patriotischer Kraft in der Stimme ein Lied. Immer wieder ließ sie die Zeilen von Unser Vater ist der Marschall für ihn erklingen, bis Kommandant Ga endlich an den richtigen Stellen im Lied » Ewig brennt des Marschalls Flamme « brummte. Der Wind zerrte gefrierende Blutfäden von seinen Lippen, doch der gute Kommandant sammelte seine ganze Kraft und kam unter diesen Worten auf die Beine.
Gegen die mächtigen Sturmwinde gelehnt kämpfte er sich bis zum Fenster vor, hinter dem Sun Moon auf das Meer unter ihnen deutete. Und da sah er, was auch sie sah: einen amerikanischen Flugzeugträger, der aggressiv unser Hoheitsgebiet durchkreuzte. Zugleich erkannte Ga die Gelegenheit, endlich dem Schatten seines feigen Verhaltens zu entkommen. Kommandant Ga salutierte ein letztes Mal schneidig vor Sun Moon, stürzte sich von der Tragfläche und raste als tödliches Geschoss auf die Kommandobrücke des Kapitalismus zu, in der ein amerikanischer Kapitän gerade den nächsten hinterhältigen Überraschungsangriff plante.
Nun dürft ihr Ga nicht im ewigen freien Fall sehen, Bürger. Stellt ihn euch inmitten einer weißen Wolke vor. Seht ihn im vollkommenen Licht, das leuchtet wie eine eisige Bergblume. Ja, stellt euch eine große, weiße Blume vor, die so riesig aufblüht, dass sie sich zu euch herunterbeugt und euch pflückt. Ja, hier seht ihr Kommandant Ga, wie er hoch in den Himmel gehoben wird. Und dort erscheinen in einem leuchtenden Kranz aus hellem, gleißendem Licht mit einem Mal die liebevoll ausgebreiteten Arme des ewigen Kim Il Sung.
Wird ein Mensch von einem glorreichen Führer an den nächsten gereicht, Bürger, dann lebt er wahrlich ewig. So wird ein Jedermann zum Helden, zum Märtyrer, zur Inspiration für alle. Also weint nicht, Bürger! Schaut her: Eine Bronzebüste von Kommandant Ga wird bereits auf dem Friedhof der Revolutionshelden aufgestellt! Trocknet eure Tränen, Genossen, denn Generationen künftiger Waisenkinder werden nun den Namen dieses Helden und Märtyrers tragen dürfen. Auf ewig, Kommandant Ga Chol Chun. So wirst du ewig leben.
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DANKSAGUNGEN
Unterstützung für dieses Buch wurde von der National Endowment for the Arts, der Whiting Foundation und dem Stanford Creative Writing Program gewährt. Teile dieses Buchs sind zuerst in den folgenden Publikationen erschienen: Barcelona Review, Electric Literature, Faultline, Fourteen Hills Review, Grant, Hayden’s Ferry Review, Playboy, Southern Indiana Review, Yalobsha Review und ZYZZYVA. Dank schuldet der Autor auch der UCSF Kalmanovitz Medical Library, in der ein Großteil dieses Buches geschrieben wurde.
Ich danke meinen Reisebegleitern in Nordkorea: Dr. Patrick Xiaoping Wang, Willard Chi und dem ehrenwerten Dr. Joseph Man-Kyung Ha. Die Bibliothekarin des Korean Studies Program an der Stanford University, Kyungmi Chun, hat mir außerordentlich geholfen, genau wie Cheryl McGrath von der Widener
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