Sommernachtsschrei
1
Bleib, wo du bist, oder du wirst es bitter bereuen!
Schwarz auf weiß. Gedruckt auf einem gewöhnlichen Blatt Papier. Kein Absender auf dem Kuvert. Adressiert an Franziska Krause, ebenfalls gedruckt. Abgestempelt in München vor zwei Tagen.
Ich falte den Bogen wieder zusammen, stecke ihn in den Umschlag zurück und stopfe ihn in die Tasche meines Kapuzenpullis. Meine Finger zittern, als ich den Briefkasten zuschließe. Mit den drei Briefen für meine Eltern betrete ich den Aufzug, drücke siebter Stock und sehe mir im Aufzugspiegel in die Augen. Ich zucke zurück vor diesem panischen, flackernden Blick. Das bin ich nicht!, schreit meine innere Stimme.
Die Türen schließen sich. Ruckartig setzt sich der Aufzug in Bewegung. Ich will fliehen aus diesem neonlichthellen Gefängnis, weg, irgendwohin, wo mich keiner kennt und ich mir vormachen kann, jemand anders zu sein. Vorsichtig taste ich in meiner Tasche nach dem Papier, als hoffte ich, es wäre nicht da und ich hätte eben nur einen Albtraum gehabt. Aber die scharfen Kanten schneiden in meine Finger…
Bleib, wo du bist…
Ich zwinge mich, meinem Spiegelbild in die Augen zu sehen. Willst du dein ganzes Leben Angst vor dir und vor solchen Briefen haben?
Meine Hand zerknüllt das Papier.
Ich werde fahren.
Zwei Tage später sitze ich im Zug und bin unterwegs. Köln – Prien – Kinding. In Kinding ist es passiert. Vor genau einem Jahr. In Kinding ist mein Leben zerfallen in ein Davor und ein Danach.
»Versuch, dich zu erinnern, Franziska. Das ist deine einzige Chance, dich selbst zu verstehen«, sagte Dr. Pohlmann, die Klinikpsychiaterin, bei meiner Entlassung. Ich nickte. Und dachte daran, was andere – und auch meine Eltern – glaubten: »Wie gut, dass sie sich nicht erinnert, sonst wäre sie nicht so leicht aus der Sache herausgekommen.«
Ich tue, was Dr. Pohlmann sagt. Seitdem es passiert ist, versuche ich, mich an jene schreckliche Tat zu erinnern, die mein ganzes Leben verändert hat. Jeden Tag versuche ich, meinem Gedächtnis die düstersten Minuten meines Lebens zu entlocken. Ohne Erfolg.
Ich leide unter einem Posttraumatischen Belastungssyndrom mit Amnesien. Anders ausgedrückt: Ich habe etwas Schreckliches erlebt und etwas in mir weigert sich, die Erinnerung an einen bestimmten Moment freizugeben. Es sei ein Schutzmechanismus der Seele, der verhindert, dass ich mich an wichtige Teile des Traumas erinnern kann, sagt Dr. Pohlmann.
Mir fehlen Minuten. Die entscheidendsten meines Lebens.
Immer wenn ich die Augen schließe und mich an jene Minuten im letzten Sommer erinnern will, ist es, als wäre ich auf einem See und plötzlich umgibt mich dichter Nebel. Ich kann mich noch genau erinnern, was bis zu diesem Zeitpunkt passiert ist. Ich kann mich erinnern, wie es war, als ich meine Augen wieder geöffnet habe. Doch der entscheidende Moment verliert sich in jenem weißen, undurchdringlichen Nebel. Je verzweifelter ich versuche, ihm zu entkommen, umso dichter umschließt er mich.
»Du solltest nicht fahren«, sagte meine Mutter heute Morgen, als ich mit meiner Reisetasche in die Küche kam, um mich zu verabschieden. »Es ist doch genau vor einem Jahr passiert.«
Ich erwiderte nichts, dabei hätte ich sagen müssen: Gerade deshalb fahre ich. Übermorgen würde in Kinding die Sommerparty des Augustinus-Gymnasiums stattfinden. Wie jedes Jahr – und wie letztes Jahr. Da wohnten wir noch am Chiemsee, da ging ich noch auf dieses Gymnasium – und da war ich auf dieser Sommerparty gewesen.
Wochenlang habe ich überlegt, ob ich wirklich nach Kinding – in die Vergangenheit – fahren soll. Kann ich das wirklich durchziehen? Halte ich das aus? Und kann ich das meinen Eltern zumuten? Sie machen sich Sorgen um mich. Mein Vater hat, seitdem es passiert ist, Angina-Pectoris-Anfälle. Und meine Mutter leidet unter Schlafstörungen.
Von dem anonymen Brief habe ich weder meiner Mutter noch meinem Vater was gesagt.
Hinter dem Zugfenster zieht die Landschaft an mir vorbei. Wie mein Leben, denke ich. Ich bin Zuschauer geworden und fürchte mich, zurück auf die Bühne zu gehen, meine Rolle selbst zu bestimmen. Ich bin unsichtbar geworden. Und dann kam dieser Brief. Bleib, wo du bist, oder du wirst es bitter bereuen. Unwillkürlich gleitet meine Hand in die Tasche meines Kapuzenpullis. Ich habe es nicht geschafft, den zerknüllten Brief wegzuwerfen. Wer wusste eigentlich von meinem Plan, nach Kinding zu fahren?
Leonie, Maya und Vivian. Mit ihnen habe ich vor
Weitere Kostenlose Bücher