Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Geschenk

Das Geschenk

Titel: Das Geschenk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Wondratschek
Vom Netzwerk:
dunkel – wäre die Geschichte noch dieselbe? Ein Abend im Sommer, eine Winternacht – hat eine Geschichte ein eigenes Interesse, sich wohl zu fühlen? Nicht zu denken daran, daß Chuck, sobald er erst einmal ins Erzählen gekommen ist, noch immer gut ist für ein, zwei Flaschen Rotwein? Eine Bar wäre so sehr der falsche Ort wie ein Wohnzimmer. Wahrscheinlich käme man der Wahrheit der Geschichte an einem Ort am nächsten, der einfach nur das richtige Licht hat.
     
    Was wäre gewesen, wenn … Wie die meisten Menschen stellt sich auch Chuck manchmal noch diese Frage und sucht nach der Antwort – oder nach einem, der sie kennt. Wenn er damals, als ihn die Sucht fast umgebracht hatte, nicht pleite gewesen wäre, hätte er sich aufgemacht und wäre in die Klinik nach Quiberon gefahren. Er hätte in jener Nacht die Bar in München also gar nicht betreten, dort nicht das so blühend junge Mädchen entdecken und es ohne Umschweife um seine Telefonnummer bitten können. Es hätte keine Befruchtung, keine Schwangerschaftund das Geschenk, einen Sohn zu haben, nicht gegeben. Und diese Geschichte nicht! Es gibt diese Geschichte, weil für etwas anderes kein Geld da war. Chuck ist dafür, mehr als er sagen kann, dankbar. Das Leben, das sich versteckt hatte, war zu ihm zurückgekehrt.

Sizilianischer Sonntag

 
    Er würde eine Million hinblättern, einfach so,
    nur um wieder einmal schmerzfrei pissen zu können.
    Das Geld hätte er. Er war der Boß. Sein Badezimmer
    war fast so groß wie die Kirche, in die er ging,
    um zu beten.
    Die Hände zu falten wäre unvorsichtig. Und ein Gebet
    war es auch nicht, was er mit Gott zu besprechen hatte.
    Mach mich gesund! Laß mich sterben oder mach mich
    gesund! Gib mir einen neuen Schwanz,
    einen anderen, weiter nichts,
    einen, der tut, was ich will, einen, wie ich einen mal hatte.
    Ich brauch das Ding, sagte er und sagte die Wahrheit.
    Ich brauch das Ding, wie ein Kind eine Mutter braucht.
    Ich muß, wenn ich leben will, pissen können.
     
    Er redete mit Gott zwar nur in Gedanken, das aber laut.
    Aber der Kerl reagierte nicht, auch auf Geld nicht.
    Er reagierte einfach nicht, dieser Scheißkerl.
    Und das war das Gefährliche.
     
    Der Boß seufzte und stand, was auch weh tat, auf.
    Er nahm seinen Hut, grüßte beim Hinausgehen
    die Gläubigen, die guten alten Leute,
    die kleinen fetten Mädchen und die Buben –
    und bekam davon Kopfschmerzen. Man verehrte ihn,
    er sah es, was alles noch schlimmer machte.
     
    Du und ich, dachte er, Gott und Geld!
    Das hat doch sonst immer funktioniert.
    Wir sind alt genug, es zu wissen.
    Und stopfte, was einem Wutanfall gleichkam,
    den Opferstock mit Geldscheinen voll.
     
    Bis es dunkel war, läuteten die Glocken.
    Die Kirche war leer. Die schweren wehrhaften Portale
    schlossen sich. Das Geld war mit Gott allein.
     
    Was nachts geschah, gehörte ihm, die Straßen,
    die Tische, das Glück und Unglück der Spieler.
    Ihm gehörte, bis die Sonne aufging, jede Sekunde
    auf jedem Zifferblatt, jede Hand, die gewonnen, und
    jede, die verloren hatte. Jede Zahl, auf die einer setzte,
    gehörte ihm. Doch jetzt zitterten seine Beine. Er hatte
    den Vorteil, warten zu können, eingebüßt.
     
    Er entschuldigte sich bei seiner Mutter,
    die tot war, ihn liebte und ihm natürlich verzieh,
    ihrem einzigen, ihrem geliebten kleinen Jungen,
    den sie, mehr noch als zu ihren Lebzeiten, mit einer
    Unbarmherzigkeit liebte, die Gott schläfrig machte,
    wenn sie ankam, um für ihn seinen Segen einzufordern.
    Sie kam jeden Tag, zu jeder Jahreszeit,
    und mit jedem Jahr wurde es schlimmer mit ihr.
     
    Und schlimmer mit dem Jungen.
    Er schlug, weiter nichts, sein Leben in Stücke.
    Er ließ nur die Geige heil, auf der er zum Entzücken
    seiner Mutter herumkratzte. Aber es war nicht die Musik,
    es waren die Finger, die ihn interessierten, ihre Unruhe.
    Es war Training für alles, was eine Hand will.
     
    Und eines Tages, er war alt genug, ging er aus dem Dorf,
    holte sich, was er unter einem Stein da draußen
    vergraben hatte, und kam zurück.
    Es machte alles, was danach war, endgültig.
     
    Er war nicht der einzige.
    Es gab im Dorf andere.
    Es gab in den Städten andere.
    Es gab welche in Amerika, was immer Amerika genau war.
    Es gab darüber viele Geschichten, zu viele.
    Und es gab die Särge, die mit dem Schiff ankamen,
    und die Gräber, die auf sie warteten.
     
    Ins Auge des Todes treffen. Das war, was er wollte.
    Ein Schuß, nur einer. Keine nervösen

Weitere Kostenlose Bücher