Das Geschenk
zu jung für jeden, der mich anschaut.
Er hat zehn Männer, als sei es eine Selbstverständlichkeit,
ganz ruhig, nach einem kurzen klärenden Wort,
ins Jenseits befördert.
Schau nicht hin, hat er gesagt, es ist nichts,
es ist unwichtig.
Er war der Boß. Er war bewaffnet. Er war mein Vater.
Getauft auf den Namen der Jungfrau war ich Maria,
die Jungfräuliche.
Was sollte ich tun? Seine Hand ruhte auf meinem Kopf,
sie beschützte mein Leben.
Ich war, unwichtig, aber kostbar, seine Tochter.
Nur, dachten wir beide, was anfangen mit einer wie mir?
Er glaubte daran, daß es so etwas wie mich geben müsse,
ein Mädchen, zu anderen Zwecken nützlich als den
üblichen, der Welt, in der Männer wie er lebten,
in allem unähnlich, den Frauen unähnlich,
die es gab, also etwas Vernünftiges!
Eine von ihm gezeugte Heilige, eingeschlossen wie unter
Glas, unter kugelsicherem Glas, versteht sich.
Etwas wie ein Wunder!
Ein kleiner Himmel, der ihm gehörte.
Ein letztes Versteck!
Vielleicht war er verrückt, aber das war ich auch.
Wenn ich blutete, sang ich. Das war meine Idee.
Ich blutete aus Liebe zu einem Verrückten.
Nachts, wenn die Schmerzen kamen, hörte ich ihn
schreien. Ich hörte ihn jede Nacht.
Es war schwer zu ertragen.
Noch schwerer zu ertragen war, ihn, wie er es wünschte,
allein zu lassen, ihn allein schreien und leiden zu lassen.
Es war lebensgefährlich, sich in das alles einmischen zu
wollen. Er war da schon zu betrunken.
Wenn es draußen hell wurde
und die Schmerzen nachließen,
war er betrunken.
Aber seine Gedanken waren nicht bei dem Alkohol, den
er trank. Er trank nicht mehr, wie ein Mann trinkt.
Er trank, weil er keiner mehr war.
Und weil es einen Gott gab, der keiner war.
Er ging ihn suchen. Er hat, um ihn zu finden, getötet.
Er war nur noch ein großes, grausames Kind.
So stand er vor seinem Gott, nackt und schreiend.
Er schrie bis zum Ersticken. Er schrie mit vor Wahnsinn
weiß gewordenen Augen. Ich will sterben, schrie er.
Bring meinen Schwanz in Ordnung, schrie er,
oder schick deine Mörder.
Er ließ alles, was Gold war, einschmelzen,
das Gold seiner Ringe und Uhren, das Gold der
Manschettenknöpfe,
der Broschen und Halskettchen, seine aus purem Gold
gefertigten Bettpfosten, das Gold,
das aus den Spiegeln und Gemälden floß,
aus Bechern, Nadeln, Kandelabern,
und legte den Klumpen auf das auf dem Altar
in der Mitte aufgeschlagene Buch.
Er hatte kaum noch Kraft zu atmen, und schrie weiter.
Die Zähne faulten ihm vom Schreien. Hier, schrie er,
nimm es, es ist mehr, als der Glaube an dich wert ist.
Man wird ihn erschießen müssen, sagten seine Freunde
und losten unter seinen Söhnen den aus, der es tun
sollte. Schließlich war ich es,
seine Tochter, die es erledigte.
Schau nicht hin, sagte ich, es ist nichts, es ist unwichtig.
Und schoß. Ich gab mein Bestes, und es war gut.
Über den Autor
Wolf Wondratschek
Daten, Fakten, Jahreszahlen
1943 geboren in Rudolstadt/Thüringen; aufgewachsen in Karlsruhe
1962-67 Studium der Literaturwissenschaft und Philosophie in Heidelberg, Göttingen
und Frankfurt am Main
1964-65 Redakteur der Zeitschrift „Text + Kritik“
1969 erste Buchveröffentlichung „Früher begann der Tag mit einer Schusswunde“
1970-71 Aufenthalt in London, verbunden mit einer Gastdozentur für Poetik an der Universität Warwick
1977-78 Vortragsreise durch Universitätsstädte der U.S.A.
Wolf Wondratschek ist freier Schriftsteller und lebt in München und Wien.
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