Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
Wie rau der Morgen war. So weiß, so kühl gegen das sanfte Violett der Nacht; so harsch und bloß nach den reich gekleideten Träumen. So unnachsichtig klar, wie Glassplitter auf der nackten Haut, wenn sie noch weich und verwundbar war unter den Laken. So herzzerreißend licht, wenn man sterben musste.
Die alte Frau legte den Kopf zurück auf das glatte Kissen. Vom Bett aus sah sie die Frostblumen an der Fensterscheibe, das zarte, rätselhafte Gespinst; eine unlesbare Schrift, die irgendetwas bedeuten mochte. Sie war zu müde, um es herauszufinden. Bald würde die Tochter kommen, es war die Zeit dafür, und mit einem sauberen Tuch darüberwischen; und erst im Gehen nur die sachteste Andeutung machen, dass das Gutshaus neue, dichte Fenster brauchte. Nun, sie würde sich nicht mehr allzu lang mit Andeutungen zufriedengeben müssen.
Von unten, vom staubigen Salon her, konnte die alte Frau sie leise streiten hören, die Tochter und die Enkelin; wie alle Generationen von Frauen streiten, wenn sie zu dicht beieinanderliegen. Ihr war es nicht anders gegangen, ging es heute noch nicht. Mit den Jungen war es nie so schwierig
gewesen … Wahrscheinlich gab es niemanden, der sich von der Mutter so sehr unterschied wie die Tochter; so lange, bis die Ähnlichkeit sich über Jahrzehnte hinweg so nah an beide heranschlich, dass sie sich eines Morgens gegenseitig ins Gesicht blickten wie in einen Spiegel.
Sie rief nach ihnen, schwach, aber hörbar, öffnete sogar den Mund dabei, obwohl es überflüssig war: Es gab keine Nische in ihrem Geburtshaus, die sie nicht mit ihren Gedanken erreichen konnte. Aber die Tochter liebte das nicht. Und die alte Frau fühlte sich zu matt, um weiteren Streit heraufzubeschwören. Dabei war es noch nicht so sehr lange her, dass sie die Vorstellung belebt hätte …
Wie unverwechselbar doch Schritte waren. Da kamen sie die Treppe hinauf, feste, bestimmte Schritte in vernünftig flachen Schuhen, und daneben das sorglose Trippeln der ganz jungen, die noch nicht prüfen müssen, wie dauerhaft der Boden ist, auf den sie ihre Füße setzen. Die alte Frau richtete sich auf.
Fast ohne es zu merken, schob sie dabei die linke Hand unter eines der Kissen. Sie war, wie die rechte auch, von feinen, blassen Narben überzogen. Aber der linken fehlte dazu am Ringfinger, da, wo der Nagel war, das oberste Glied.
Sie sah die Verstümmelung nicht gern, ihre Tochter. Sah nicht gerne Dinge, die fehlten, Dinge, die nicht waren, wie sie sein sollten. Und sie hatte nie verstanden, warum die alte Frau ausgerechnet auf dieser Seite ihren Ehering tragen musste.
Das Lächeln kam jetzt leichter als die vielen Jahre zuvor, vielleicht, weil sie ihm schon so nahe war. Sie spürte es deutlich in den Mundwinkeln, und kaum dass die Tür
leise geöffnet wurde, grüßte es sie wieder vom Gesicht ihrer Enkelin.
»Großmama, du bist ja schon wach.«
Sie war immer noch stolz darauf, dass es ihr gelungen war, von »Oma« oder, schlimmer noch, »Ömchen« verschont zu bleiben. Ob es wirklich an der neuen Zeit lag, dass alle Wörter immer kürzer wurden? Es war eine gewisse Atemlosigkeit darin, wie sie fand; das aufgeregte Voranstürmen von Kindern, die nicht abwarten konnten, welche Wunder sie hinter der nächsten Biegung erwarten mochten. War man denn zu ihrer Zeit tatsächlich so viel bedächtiger, so viel erwachsener gewesen? Und war es wirklich schon so lange her?
»Alles Liebe zum achtzigsten Geburtstag, Großmama!«
Eine weiche Wange schmiegte sich an ihre knochige, Haarsträhnen, die nach Vanille dufteten und irgendwie, ganz schwach, nach Milch.
»Danke, meine Kleine. Ich hoffe, du hast gut geschlafen?«
»Sehr gut sogar.« Ernsthafte, eifrige, weiherdunkle Augen. »Ich habe wieder die seltsamsten Dinge geträumt. Ein Wassermann kam darin vor, und Elfen, und eine Gans, glaube ich. Schön war es. Und aufregend.«
»So, eine Gans?«
Ihre Enkelin zuckte mit den Schultern. »Etwas Ähnliches wie eine Gans.«
Geschirr klapperte, und die Tür wurde ein zweites Mal aufgedrückt.
»Guten Morgen, Mama«, sagte ihre Tochter und stellte das Tablett vorsichtig auf einem Tischchen ab. »Alles Gute zum Geburtstag. Ich habe dir Kringel gebacken. Für den Kuchen ist es ja vielleicht noch ein bisschen früh.«
Sie kam zum Bett und umarmte die alte Frau, warm, herzlich und distanziert. Nur erwachsene Frauen beherrschten das so vollendet.
»Sieh nur, die Scheiben sind schon wieder von innen gefroren.«
»Ich finde es hübsch«, zirpte
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