Das Geschenk der Sterne
die das Dorf Mong umgaben wir ein schützender Wall. Eine Nachtigall in einem Ginkgo, dessen Äste sanft im Wind tanzten, sang ein Lied der Sorglosigkeit.
»Warum nennst du Prinz Yan einen Schurken?«
»Weil er dir befohlen hat, mich zu töten. Weil er anderen befohlen hat, andere zu töten. Weil er selbst ein Mörder ist. Weil er sein Gewissen und seine Seele verloren hat im Rausch der Machtbesessenheit.«
»Ein Fürst muß sich gegen seine Feinde wehren!«
»Es gibt unterschiedliche Arten, sich gegen seine
Feinde zu wehren«, sagte Tschuang Tse, »und es gibt unterschiedliche Arten von Herrschern. Nicht alle sind so verbrecherisch und gewissenlos wie Yan, manche erhalten sich einen Rest von Anstand, der ihnen sogar die Achtung ihrer Feinde einbringt. Prinz Yan wird nicht einmal von seinen Gefolgsleuten geachtet. Sie fürchten ihn, weil er ihnen an Herrschsucht, Heimtücke und Grausamkeit überlegen ist. Ihre Furcht vor ihm ist seine Macht über sie.«
Min Teng blickte auf Tschuang Tse hinunter und dachte, daß Prinz Yan recht hatte: Tschuang Tse war ein gefährlicher Mann, seine Gedanken und Worte wirkten verwirrend auf den Verstand! Er konnte aber auch Tschuang Tses Worten über Prinz Yan nicht widersprechen. Es war ein offenes Geheimnis, daß Yan seinen jüngeren Bruder im Schlaf erdolcht hatte, um sich vor dessen möglichen Machtansprüchen zu schützen. Er hatte allein in diesem Jahr schon Dutzende von Männern töten lassen, in denen er eine wirkliche oder mögliche Gefahr für seine Macht sah.
Min Teng hatte sich nie angemaßt, über Yans Wesen und sein Handeln, das sein Wesen zum Vorschein brachte, zu urteilen. Ein Fürst stehe über der Urteilsfähigkeit seiner Untertanen, hatte Yan einmal verkündet, und Min Teng hatte ihm geglaubt.
Tschuang Tse hatte diesen Glauben ins Wanken gebracht, und Min Teng verspürte Furcht davor, daß er fallen und zerbrechen würde, weil danach nichts mehr so sein würde, wie es einmal gewesen war. Es würde wie ein
Tod im Leben sein, und Min Teng klammerte sich an das Leben, das ihm zu entgleiten drohte.
Er zog seinen Dolch aus der Scheide und betrachtete ihn. Eine schnelle Bewegung des Armes, ein gezielter Wurf, und Tschuang Tse wäre tot.
»Ein hübscher Dolch«, hörte er Tschuang Tses Stimme, »mit einem reichverzierten Knauf. Ist es nicht seltsam, daß sehr viel Mühe darauf verwendet wurde, ausgerechnet so etwas Häßlichem wie einem Tötungswerkzeug einen Anschein von Schönheit zu verleihen?«
Tschuang Tse griff zum Krug, goß Wasser in seine Schale und nahm einen Schluck.
Min Teng steckte nach kurzem Zögern den Dolch in die Scheide an seinem Gürtel zurück und setzte sein ruheloses Umherlaufen im Zimmer fort. Die Verwirrung, in die Tschuang Tse ihn gestürzt hatte, brauste in ihm wie ein unverhofft aufgekommener, schnell wilder werdender Sturm, der die Stützpfeiler seines Denkens umzustürzen drohte. Er zerrte unerbittlich an seinen Überzeugungen, riß seine vermeintlich festen Ansichten mit sich fort wie Seidenfetzen, wirbelte seine Gefühle in alle Himmelsrichtungen, als wollte er die Ordnung in seinem Inneren ein für allemal zerstören. Seine Meinungen, seine Grundsätze, all das, was ihm als sicher und unverrückbar erschienen war, wurde von der Gewalt des Unwetters erfaßt, gebrochen und ins Nichts geschleudert. Obwohl er sich noch immer gegen den Sturm stemmte, um seiner Zerstörungswut Einhalt zu gebieten, wußte er, daß dieser Kampf bereits verloren war. Er hatte
zu lange gezögert, Tschuang Tse zu töten, hatte ihm zu lange zugehört. Nun töteten Tschuang Tses Worte ihn. Seltsamerweise fühlte er keinen Haß, keine Wut auf den Mann, der das wilde Tosen in ihm entfacht hatte, das ihm den Tod im Leben brachte. Mit einer seltsamen Ruhe, die ihn mit Verwunderung erfüllte, beobachtete er, wie das Unwetter seinen Höhepunkt erreichte, keinen Stein auf dem anderen ließ, das Obere nach unten kehrte und unter den Trümmern, die es schuf, all das begrub, was er für sein Ich gehalten hatte.
Min Teng spürte, wie das gewaltige Tosen nachließ, als gäbe es nun nichts mehr in ihm, was sich noch zu vernichten lohnte. Er betrachtete das ganze Ausmaß seiner inneren Zerstörung mit einer Gelassenheit, die ihn erstaunte. Warum war er nicht entsetzt, verzweifelt, zornig? Warum empfand er keine Trauer über seine erlittenen Verluste? Warum hatte er keine Angst mehr davor, daß nichts mehr so sein würde, wie es gewesen war? Hatte der Sturm ihm auch seinen
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