Das geschenkte Gesicht
seelische Hemmungen?« fragte der amerikanische Arzt.
»Alle.«
»Wieso?«
»Ich mache Ihnen den Vorschlag, sich von einer Hobelmaschine das Gesicht weghobeln zu lassen. Dann sprechen wir erneut darüber, wieso das so ist.«
Der Arzt aus Cincinnati räusperte sich und blätterte in seinen Notizen. »Natürlich wird es zu häuslichen Schwierigkeiten kommen«, sagte er gedehnt. »Aber alle Verletzten sehen so aus, daß sie als erträglich bezeichnet werden können.«
»Für einen Arzt – ja. Wir messen mit anderen Maßstäben. Wenn wir sagen: Das Gesicht ist wieder in Ordnung, sehen wir es mit dem Blick des Mediziners. Für die Frau oder Mutter sieht der Verletzte aber noch immer wie ein Ungeheuer aus. Und auch er empfindet es so. Er weiß, wie er früher aussah.«
»Es war eben Krieg, Kollegin.«
»Zu dumm, daß wir das immer vergessen.«
»Hupp – Solarplexus!« sagte Braddock fröhlich.
»Sie glauben, daß es Schwierigkeiten geben wird, wenn wir sie entlassen?«
»Ich weiß es! Nicht bei allen. Nicht bei Schwabe etwa, oder bei Feininger oder bei Oster. Bei Adam schon gar nicht. Aber Walter Hertz ist ein kritischer Fall. – Und so wie ihn habe ich noch etwa vierzehn Fälle im Lazarett. In ihnen wurzelt noch immer die Angst, nicht mehr lebensfähig zu sein. Ein schiefer Blick, eine unvorsichtige Bemerkung, und schon kann es zur Katastrophe kommen. Ein Gesichtsverletzter hat auch eine verletzte Seele: Das sollte ein Lehrsatz werden.«
Die Kommission fuhr in der Nacht noch zurück nach Bernegg. In allen Zimmern des Blockes B brannten noch die Lichter, saßen die Verletzten in den Betten oder um die Tische. Die einen dumpf und nachdenklich, die anderen zitternd vor Freude und Erwartung. Sie alle konnten nicht schlafen.
Entlassung.
Das völlige, sichtbare Ende des Kriegs.
Nach Hause. Zu der Frau, der Mutter, der Braut.
Zurück ins Leben.
Und sie machten Pläne, diese gesichtslosen Wesen, und klammerten sich an diese Pläne, weil sie das einzige waren, was ihnen geblieben war.
Der Glaube an das Gute.
Am 10. Dezember war es soweit.
In Gruppen wurden die Verwundeten aufgerufen und mußten zur Schreibstube kommen. Dort saßen Leutnant Potkins, der Stabszahlmeister und vier Schreiber, auch Gesichtsverletzte, und stellten die Entlassungspapiere und die Fahrtausweise zu den Heimatorten aus. Es vollzog sich alles reibungslos, still, ohne fröhliche Bemerkungen, wie man sonst einen einschneidenden guten Abschnitt des Lebens begrüßt. Die Männer waren ernst, nahmen ihre Papiere und die Fahrscheine, unterschrieben lange Bögen mit Paragraphen, ohne sie zu lesen, und gingen wieder auf ihre Zimmer, setzten sich auf die Betten und lasen den Fahrschein und den Vermerk auf dem Schlußuntersuchungsbefund.
»Untauglich«, stand darauf. Wofür?
Untauglich auch für das Leben?
»Ob man 'n Telejramm schicken kann?« fragte der Berliner. »Ick muß doch Muttern mitteilen, det Paulchen kommt.«
»Vielleicht von Würzburg aus.« Erich Schwabe begann schon, seine wenigen Sachen zu packen. »Wir fahren doch alle zusammen nach Würzburg, nicht wahr?«
»Müssen wir ja.« Fritz Adam faltete die Hände über der Tischplatte. »Und wie der Bloch wollen wir uns versprechen: Wir bleiben zusammen. Jeder wird in Zukunft, solange er lebt, immer für den anderen dasein!«
»Ehrensache«, sagte Walter Hertz.
Sie schrieben ihre Adressen auf und ließen sie rundgehen. Jeder schrieb sie sich in sein Notizbuch.
»Ob die Lisa hier bleibt?« fragte Hertz.
»Wenn nicht – es wird sich immer feststellen lassen, wohin sie gegangen ist.« Fritz Adam sah die anderen zustimmend an. »Ich schlage vor, daß wir sie im nächsten Jahr besuchen. Alle zusammen. Einen Tag können wir ja noch ausmachen.«
Sie nickten und dachten wieder an zu Haus. Nur Walter Hertz nicht. Er hatte kein Zuhause mehr. Er hatte bei der Entlassung einfach Frankfurt angegeben. Nach Frankfurt lautete nun sein Fahrschein. Was er dort sollte, wußte er nicht. Irgend etwas würde sich finden. Oder sollte er zu Petra fahren? Mit ihr in der amerikanischen Kantine arbeiten. Heiraten kann ich sie nie, dachte er. Auch jetzt nicht, wo sie so arm wie ich ist. Einmal wird sich das ändern, und ich weiß, daß ihre Eltern es nie erlauben würden. – Für sie bin ich kein Mensch mehr.
Zum letztenmal wurden die Gesichter verbunden und mit Leukoplaststreifen überklebt. Und jedesmal, wenn ein Gesicht fertig war, drückte Lisa Mainetti die Hand des Verletzten und sagte: »Mach's
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