Das geschenkte Gesicht
Winterhimmel.
Köln, dachte Schwabe ergriffen. Mein Köln. Meine Heimat. Nun bin ich für immer zu Haus. Polen, Frankreich, Rußland, an allen Fronten habe ich gekämpft. Über sechs Jahre in Uniform. Sechsmal 365 Tage habe ich neben dem Tod geschlafen. Kameraden starben an meiner Seite oder in meinen Armen. Und nun ist alles vorbei, endgültig vorbei. Es ist Frieden.
Der Zug hielt mit einem Ruck. Schwabe blieb am Fenster stehen und starrte hinaus. Die Menschen hasteten aus den Wagen, über den Bahnsteig, wurden von den beiden Ausgängen verschluckt, als zöge es sie hinab in die Unterwelt. Schwabe wartete, bis alle das Abteil verlassen hatten, bis er allein im Wagen war. Erst dann stieg er langsam aus und blieb allein und einsam auf dem eisigen Bahnsteig stehen.
Ursula war nicht da. Und auch seine Mutter war nicht gekommen. Er sah auf seine alte Armbanduhr. Natürlich, über eine halbe Stunde Verspätung. Sie hatten sicherlich gefroren und waren in einen Wartesaal gegangen, sich aufzuwärmen. Nun mußten sie gleich eine der Treppen herauflaufen, winkend und vor Freude weinend. Und er würde die Arme ausbreiten, Mutter und Ursula an sich drücken, sie selig umarmen und voller Freude sagen: »Da bin ich.«
Erich Schwabe blieb auf dem Bahnsteig stehen und wartete. Der Zug hinter ihm fuhr wieder weg, zum Abstellgleis. Zwei Bahnarbeiter, mit Pfeifen zwischen den Lippen und langstieligen Hämmern in der Hand, kamen an ihm vorbei.
»Hier geht keiner mehr weg, Kumpel«, sagte einer im Vorbeigehen. »Der da«, er zeigte auf die Schlußlichter des ausfahrenden Zuges, »ist gerade angekommen und fährt erst morgen früh.«
Schwabe nickte. »Danke«, sagte er etwas bedrückt.
Und blieb stehen und wartete weiter.
Nach einer halben Stunde hob er sein Gepäck auf und warf es über die Schulter. Es war ihm unerklärlich, warum Ursula und Mutter nicht gekommen waren. Er suchte einen Grund und fand ihn nicht. Vielleicht war Mutter krank – dann konnte Uschi kommen. Oder Uschi ging es nicht gut wegen des Kindes – dann hätte Mutter kommen können. Oder war etwas geschehen? War etwas mit Ursula? Mit dem Kind? Vielleicht lag sie im Krankenhaus.
Erich Schwabe begann zu laufen. Er hetzte die Treppen hinunter, zeigte an der Sperre seinen Fahrtausweis, rannte weiter durch die zerstörte Bahnhofshalle, hinaus auf den weiten Domplatz, über den früher Hunderte von Tauben geflattert waren. Dort blieb er stehen, und Wehmut ergriff ihn, als er sich umsah. Die Hohe Straße eine Trümmerwüste, die Komödienstraße ein Wall von Ruinen, das Deichmannhaus ausgebrannt, der linke Turm des Domes über dem Fundament aufgerissen. Wohin man sah, nur ausgebrannte oder zerfetzte Häuser. Eine tote Stadt.
Dann ging er weiter, durch die von Schutt geräumten, einsamen Straßen, durch ein neues Pompeji, ein Gräberfeld mit den monumentalen Kreuzen stehengebliebener Hauswände und Kamine. Er stand am Ring, und seine Erinnerung umkreiste die Stätten seiner Kindheit: das Hohenstaufenbad, die Humboldtstraße, wo einst das Gymnasium stand, das er bis zur Quarta besuchte, um dann doch in die Glaserlehre einzutreten. Er ging langsam durch die Grünanlagen des ehemaligen Horst-Wessel-Platzes, jetzt Rathenauplatz, und sah die Stellen, wo er sich als Kind in den Büschen versteckt oder in einem Sandkasten gespielt hatte. Jetzt war es ein aufgerissener Platz mit Baumstümpfen, und die fensterlosen, ausgebrannten Riesenhöhlen der Synagoge glotzten ihn feindlich an.
Dann sah er sein Haus. Das Haus Nr. 4. Die Fassadenmauer stand noch, drei Meter hoch. Hinter ihr waren die Trümmer weggeschafft, und zwei neue Mauern strebten in den kalten Nachthimmel.
Da begann er wieder zu laufen, rannte durch die Straße, stolperte über Steine und Balken und erreichte keuchend und mit schmerzendem Gesicht den Eingang zum Keller.
Ursula, Mutter, dachte er stöhnend. Ich bin da. Ich bin da.
An der gefrorenen, nassen Wand Halt suchend, tastete er sich die dunkle Kellertreppe hinab.
Schon nach den ersten Stufen wehte ihm Wärme entgegen und der Geruch gebratenen Fleisches. Und Stimmen hörte er. Sie waren laut und lachten.
15
Langsam stieg Erich Schwabe tiefer in den Keller hinab. Vor der neuen, dicken Tür blieb er stehen und legte das Ohr an das Holz. Sein Herz klopfte wild, und die Erregung schnürte ihm den Hals zu. In seinem Schädel brauste es, und es war ihm, als schlüge man mit einem Hammer gegen seine Trommelfelle. Da hielt er den Atem an und preßte die
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