Das geschenkte Gesicht
anfertigen soll. Man will die Lazarette zuerst räumen, und zwar nach der Schwere der Verwundungen. Alle Amputierten, alle Verletzten, die arbeitsunfähig sind, werden zuerst entlassen.«
Dr. Mainetti sah die Offiziere halb erfreut und halb besorgt an. »Das mag für normale Verwundungen richtig sein, meine Herren«, sagte sie laut. »Ein Gesichtsverletzter erfüllt unter Umständen alle diese Bedingungen, aber man wird ihm mit einer Entlassung keinen Gefallen erweisen. Er muß immer wieder nachoperiert werden, es müssen Verpflanzungen gemacht werden. Narbenaustrennungen, Transplantationen. Wer soll das tun, wenn man diese Leute entläßt? Eine Entlassung aus dem Lazarett wäre in solchen Fällen nur eine neuerliche und vollkommen ungerechtfertigte Bestrafung.«
»Diese Frau ist mit nichts zufrieden!« rief Major Braddock. »Habe ich es nicht gesagt, meine Herren? Immer schwimmt bei ihr ein Haar in der Suppe. Nun wollen wir die POWs entlassen – und schon ist's wieder falsch.«
»Geben Sie den Soldaten den Status von Zivilpersonen, aber lassen Sie sie auf dem Schloß, Major.«
»Das muß das Hauptquartier entscheiden. Und wer soll die Kosten tragen?«
»Es wird ja wohl irgendeine verantwortliche Stelle geben. Ich nehme an, Sie haben Übergangsgesetze erlassen. Ich habe mich nie darum gekümmert, ich habe nur operiert und neue Gesichter gemacht. Aber es ist doch unmöglich, daß man einen Mann wie etwa Schwabe – Sie kennen ihn ja, Major – nach Köln entläßt und sagt: So, du kannst wieder essen und kauen, schlucken und hören, sehen und fühlen – das genügt. Hau ab und sieh zu, wie du durchs Leben kommst.«
»Warum geht das nicht, Madam?« fragte der lange Oberstleutnant.
»Weil wir eine menschliche Verpflichtung haben, diesen grausam Verstümmelten gegenüber.«
»Wir, Madam? Hat Amerika den Krieg verloren?«
»Es hat den Krieg gewonnen, um uns die wahre Humanität zu bringen, oder irre ich mich da?«
»Was sage ich? Was sage ich?« rief Braddock fast entzückt. »Jetzt gehen Sie k.o., lieber Seymore.«
Oberstleutnant Seymore rieb mit Daumen und Zeigefinger seine Nase. Er war aus dem Konzept geraten. »Sollen wir das Kindermädchen Deutschlands werden?« fragte er dann.
»Nein, aber bis zum Erwachsensein eines neuen Volkes der Vormund.«
»1 : 0!« sagte Braddock zufrieden.
»Bin ich Politikerin? Ich bin Arzt und sehe nur die Welt des grenzenlosen Leids. Dieses Leid muß gelindert werden. Das ist die Urpflicht eines Christen und Menschen. Wer dazu die Kosten trägt, welche rechtlichen Folgen sich daraus ergeben, das interessiert mich nicht. Ich verlange nur, daß das Leid und das Elend dieser Verstümmelten gelindert und behoben werden, soweit es möglich ist.«
»Das letzte Wort war das wichtigste, Madam.« Oberstleutnant Seymore nickte heftig. »Soweit es möglich ist. Die Möglichkeiten sind erschöpft.«
»Und das sagt das große, reiche Amerika!«
»2 : 0!« stellte Braddock genüßlich fest. »Sie kommen nicht über die Runden, Seymore. Miß Doktor hat erbarmungslose Schläge auf den Solarplexus.«
Seymore lachte gezwungen. »Das Hauptquartier wird zu entscheiden haben, nicht wir. Können wir das Lazarett besichtigen, Madam? Zunächst darf ich Ihnen einige der Herren vorstellen. Kollegen aus Rochester und Cincinnati, Chirurgen und Gesichtsplastiker.«
Er stellte vier Offiziere vor, Namen, die Lisa sofort wieder vergaß. Wichtig war nur, daß es Gesichtschirurgen waren, Fachleute, die ihre Arbeit beurteilen konnten und die wußten, was es für den unglücklichen Patienten bedeutet, ein halb angefangenes Gesicht aus der Hand zu geben und solche Menschen unbehandelt sich selbst zu überlassen.
»Also gehen wir«, sagte Lisa. Sie suchte unter den vielen Aktenstücken eine große Mappe, in der alle Krankenblätter abgeheftet waren. Famulus Baumann, Dr. Vohrer und Dr. Stenton kamen gerade vom OP zurück, aus dem der letzte Operierte hinausgerollt wurde. »Kommen Sie, Baumann, schleppen Sie mir mal die ganzen Krankengeschichten nach«, rief Dr. Mainetti ihm zu. »Die Herren wollen unsere Schäfchen auf die Privatweiden treiben.«
»Solarplexus«, sagte Braddock laut. »Man muß hart im Nehmen sein, meine Herren. Aber kann man es einer solchen Frau übelnehmen?«
Der Ausruf Lisas pflanzte sich in Sekundenschnelle fort. Er flog durch das Lazarett, von Stube zu Stube, und wo er hinkam, wirkte er wie ein Blitzschlag, der das Dach über dem Kopf wegreißt. Auch in die Stube 14 brüllte ein
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