Das geschenkte Gesicht
gut, Junge. Und beiß die Zähne zusammen!«
Und alle sagten, ohne Ausnahme: »Auf Wiedersehen, Frau Doktor. Und nochmals für alles Dank.«
Walter Hertz weinte, als er Lisa die Hand drückte. Sie nahm seinen Kopf und hielt ihn mit beiden Händen hoch.
»Du kannst jederzeit zu mir kommen«, sagte sie leise. »Ich werde etwas für dich finden. Wenn es dir da draußen zu viel wird – es gibt immer einen Platz auf der Welt, wo du leben kannst. Schäme dich dann nicht und komm nach hier zurück.«
Walter Hertz nickte stumm. Dann riß er sich aus ihren Händen los und rannte aus dem Verbandsraum.
Der Auszug der ersten Gruppe, zu der die Stube B/14 gehörte, war wie ein kleines Volksfest. Ärzte und Sanitäter, Famulus Baumann und die Ordensschwestern, die anderen Gesichtsverletzten, die am übernächsten Tage abmarschieren sollten, und sogar die amerikanischen Soldaten standen vor dem Schloß und winkten den Lastwagen nach, die die Entlassenen nach Bernegg brachten.
Dora Graff lief neben dem Wagen her, auf dem Fritz Adam stand, das Gesicht in einem Schal vermummt, mit hochgezogenem Mantelkragen, frierend und mit blau angeschwollenen Gesichtsnarben.
»Ich komme in 14 Tagen nach, Fritz!« rief sie in das Motorengeheul hinein. »Hörst du? Ich habe einen Anruf bekommen. In 14 Tagen. Nach Heidelberg. Die chirurgische Universitätsklinik arbeitet wieder. Ich kann ankommen. Hörst du, Fritz. In 14 Tagen. Heidelberg …«
Fritz Adam nickte und winkte durch die kalte Luft. Auch er rief etwas zurück. Man verstand es nicht mehr, nur die weiße Atemwolke vor seinem Mund war da, und es war, als erfrieren die Worte und stöben als winzige Kristalle davon.
Lisa Mainetti stand in der großen Eingangstür des Blockes B und sah den wegrollenden Wagen nach. Sie winkte mit beiden Händen, aber in ihrem Gesicht stand kein fröhliches Lachen, es war überschattet von tiefer Nachdenklichkeit.
Da fahren sie weg, meine Jungs, dachte sie. Was wird sie im Leben erwarten?
Und plötzlich hatte sie Angst.
In Würzburg standen Christian Oster, Erich Schwabe, der Wastl Feininger, Fritz Adam und Paul Zwerch am provisorischen Postschalter und gaben ihre Telegramme auf. Walter Hertz war nicht mehr bei ihnen. Er war in Bernegg abgeholt worden. Von Petra Wolfach, die Major Braddock benachrichtigt hatte. »So sind wir«, hatte er zu Petra gesagt. »Auch wenn Sie uns den Aufenthalt Ihres Vaters nicht verraten.«
Walter Hertz hatte es die Sprache verschlagen, als er Petra im Schulgebäude sah. Seine Sorgen, alle jagenden Gedanken der letzten Wochen waren weggewischt. Die Liebe, die Petra ihm jetzt bewies, diese Selbstverständlichkeit, mit der sie ihn abholte, als sei er ihr Mann oder Bruder, überwältigten ihn.
»Was soll denn jetzt werden?« fragte er nur, als Braddock die Fahrscheine umschreiben ließ.
»Komm erst einmal mit«, sagte Petra fest und faßte seine Hand. »Und denk nicht soviel, Walter. Ich habe auf diesen Augenblick fast ein Jahr lang gewartet.«
In Würzburg kam der große Abschied. Sie brachten den, der zuerst fuhr, immer gemeinsam zum Zug und versprachen noch einmal, sich nie aus den Augen zu verlieren. Und so ging einer nach dem anderen weg in das neue Leben, bis nur noch Erich Schwabe übrigblieb. Sein Zug nach Köln fuhr zuletzt. Er saß noch fast eine Stunde, von Reisenden heimlich angestarrt, aber es machte ihm nichts mehr aus. Er hielt seinen über und über mit Leukoplast verklebten Kopf gesenkt, hatte den Mantelkragen hochgeschlagen und das Gesicht darin versteckt.
Was wird jetzt in Köln geschehen, dachte er. Sie haben das Telegramm vielleicht schon, und Mutter wird herumrennen, um etwas extra zu bekommen, und Ursula wird nicht wissen, was sie zuerst tun soll, und herumlaufen und allen im Weg sein. Im sechsten Monat war sie jetzt, man mußte es schon sehen. Sie spürte es bereits auch selber, wie sie zuletzt schrieb. Immer mußte sie morgens würgen und sich übergeben, und dann wurde sie öfters schwindlig und mußte sich schnell setzen, ganz gleich, wo sie gerade war, auf einen Mauerrest, auf die Fensterbank einer ausgebrannten Parterrewohnung. Die Beine wurden einfach weich und gehorchten ihr nicht mehr. Es wird Zeit, daß ich komme, dachte Schwabe und sah auf seine Uhr. Noch zwanzig Minuten, wenn der Zug pünktlich aus München eintraf. Abends gegen 9 Uhr würde er dann in Köln sein. Und Mutter und Uschi würden auf dem Bahnsteig stehen und dem Zug entgegenlaufen, wenn er in die zerstörte Halle einfuhr.
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