Das Gesetz der Vampire
geschweige denn, dass ihm nach Feiern zumute gewesen wäre. Er fühlte in sich eine tiefe Leere. Zehn Jahre lang hatte er nur das Ziel gekannt, Marys Mörder zu töten. Keine Frau würde je wieder in süchtigem Verlangen nach Vincent Cronos rufen. Er hatte Mary gerächt, damit jedoch gleichzeitig seinen Lebensinhalt verloren. Dieses Vakuum würde er jetzt aushalten müssen, bis er sich ein neues, ihm ebenso wichtiges Ziel gesteckt hatte.
Im Moment fühlte er sich einfach nur ausgebrannt. Vielleicht sollte er sich tatsächlich ein paar Tage Urlaub nehmen und verreisen, um mal was anderes zu sehen und zu erleben als die Jagd nach dem nächsten Vampir. Konnte jedenfalls nicht schaden. Eine Woche in der Karibik brachte ihn vielleicht wieder auf andere Gedanken und vor allem seine innere Ruhe zurück.
Er steuerte ein Motel an, das freie Zimmer auswies, checkte ein und nahm eine ausgiebige Wechseldusche. Besser fühlte er sich dadurch nicht. Er hoffte, dass die lähmende Leere am Morgen, wenn er ausgeschlafen war und ein gutes Frühstück im Magen hatte, wieder verschwinden würde und legte sich schlafen. Die Anspannung des Tages forderte ihren Tribut, und er schlief fast augenblicklich ein.
Aber Rebecca Morris’ Drohung verfolgte ihn bis in seine Träume.
***
Der alte Vampir zuckte zusammen, als habe man ihm ein Messer in die Eingeweide gerammt. Eben war das vertraute Band zu seinem Gefährten noch fühlbar gewesen; im nächsten Moment spürte er schmerzhaft sein endgültiges Verlöschen, und die Verbindung ihrer Seelen wurde brutal gekappt. Der Alte empfand einen so wahnsinnigen Schmerz wie selten zuvor. Sein langes Leben hatte ihm eine große Gelassenheit und fast unerschütterliche Ruhe beschert. Doch Cronos war sein Freund gewesen, sein Gefährte und Blutsbruder seit über zweitausend Jahren. Sein Tod hinterließ eine klaffende Wunde in ihm, die sehr lange brauchen würde, um sich wieder zu schließen.
Er weinte um Cronos.
Zum ersten Mal in seinem Leben stieg maßloser Zorn auf einen Menschen in ihm auf, und er war versucht, sich dem Schrei nach Rache anzuschließen, den er aus vielen Kehlen vernahm auf eine Weise, die nur seinesgleichen zu hören vermochte. Doch die war ihm nach dem Gesetz der Vampire verwehrt. Der Täter war ein Mensch und fiel somit nicht unter die vampirische Jurisdiktion. Dennoch würde er den Mörder seines Freundes nicht ungestraft davonkommen lassen.
Im Moment zählte allerdings nur die Trauer um Cronos, in der der Alte, wie er wusste, nicht allein war. Es gab jemanden, den Cronos’ Tod sogar noch tiefer traf als ihn selbst. Er machte sich auf den Weg, um ihm beizustehen und mit ihm gemeinsam den Verlust zu bewältigen, bevor er sich angemessen um Cronos’ Mörder kümmern würde.
***
Rebecca wusste nicht, wie lange sie neben dem Staub, der einmal Vincent gewesen war, am Boden hockte und seine leere Kleidung an sich drückte, die immer noch seinen geliebten, vertrauten Duft an sich hatte. Sie weinte sich die Seele aus dem Leib, schrie, brüllte, heulte und tobte, bis die von den besorgten Nachbarn alarmierte Polizei eintraf. Rebecca war nicht in der Lage, irgendein zusammenhängendes Wort herauszubringen. Zu tief saß der Schock darüber, dass Vincent nicht nur vor ihren Augen, sondern regelrecht in ihren Armen vernichtet worden war. Vernichtet von einem gnadenlosen Jäger, der nicht im Entferntesten ahnte, wen er da eigentlich ermordet hatte.
Man brachte Rebecca ins Krankenhaus, wo Ärzte ihr zuerst eine Beruhigungsspritze gaben und sie danach gründlich untersuchten. Die Polizei vermutete einen Überfall oder eine versuchte Vergewaltigung. Nachbarn wollten gesehen haben, dass ein Mann über die Feuerleiter geflüchtet war. Doch niemand konnte ihn beschreiben.
Rebecca verbrachte drei oder vier Tage in einem durch Medikamente betäubten Zustand. Wenn sie wach war, starrte sie Löcher in die Luft. Sie fühlte eine unbeschreibliche Leere und endlosen Schmerz in sich. Mehrmals versuchte die Polizei, eine Aussage von ihr zu bekommen, doch sie war nicht in der Lage zu antworten.
Vincent war der Mittelpunkt ihres Lebens gewesen, und sie hatte ihn über alles geliebt. Seit sie herausgefunden hatte, dass er ein Vampir war, hatte sie natürlich gewusst, dass ihre Beziehung keine langfristige Zukunft besaß. Er war einer der Ältesten seiner Art und auf natürlichem Weg entstanden. Dennoch erwiderte er Rebeccas Liebe und wollte wenigstens so lange mit ihr zusammenleben, bis sie eines
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