Das Gewicht der Liebe
deinem Vater. Dies muss ein Geheimnis zwischen den Frauen dieser Familie bleiben.«
»Franny gehört nicht zur Familie.«
»Du weißt, was ich meine.«
»Gehört Tante Roxanne nicht mehr zu unserer Familie?«
»Du darfst es niemandem sagen, Merell.«
»Warum?«
»Du kennst die Antwort genauso gut wie ich.«
Oder vielleicht kannte sie die Antwort auch nicht. Man vergaß leicht, wie jung Merell war. Trotz ihrer Intelligenz, ihrer scharfen Beobachtungsgabe und all dem Wissen, das sie sich durchs Internet aneignete, war sie erst neun Jahre alt. »Komm her. Ich erzähl dir etwas.«
Merell tat, wie ihr geheißen wurde, kam schlurfend näher.
Ellen ergriff Merells Hände, eine Geste, die sie als peinlich und unnatürlich empfand, die ihr aber notwendig erschien, um die Bedeutung ihrer Worte zu unterstreichen. »Was du gestern getan hast, dieser 911-Notruf, ich weiß, dass du der Meinung bist, genau das Richtige getan zu haben. Doch was immer du glaubst gesehen zu haben, du hast dich getäuscht, Merell.«
»Mommy hat versucht, Olivia wehzutun.«
»Hör auf damit.«
Merell riss die Hände los und schob sie unter ihre verschränkten Arme.
»Du bist ein Kind, und es gibt Dinge, die du nicht verstehst. Menschen sind kompliziert, und manchmal sind die Dinge völlig anders, als sie zu sein scheinen. Deine Mutter liebt ihre Mädchen, euch alle. Aber was geschehen ist, ist … geschehen. Wenn du erwachsen bist, wirst du verstehen, was ich meine.«
Merell starrte auf ihre nackten Füße, krümmte die Zehen nach unten.
»Wenn diese Polizisten nicht so nett gewesen wären, wenn sie nicht darauf gehört hätten, was Franny und ich ihnen erzählt haben, wäre deine Mutter jetzt womöglich im Gefängnis.«
An dieser Stelle hätte jedes andere Kind zu weinen begonnen, dachte Ellen. Aber nicht Merell. Dieses Mädchen hatte dieselbe stolze Zurückhaltung wie Ellens Mutter.
»Stell dir vor, wie es gewesen wäre, wenn man sie auf die Polizeiwache mitgenommen und eingesperrt hätte.« Wie viel bedurfte es denn noch, um dieses Kind dazu zu bewegen, angemessene Reue zu zeigen, ein wenig gesunde Scham? »Und wenn deine Mutter im Gefängnis wäre, könn te es durchaus sein, dass ihr Mädchen eurer Mutter weggenommen und in ein Waisenhaus gesteckt werdet.«
»Daddy würde das nicht zulassen.«
Wahrscheinlich nicht. Doch er hätte ganz sicher eine Menge Probleme sowohl in rechtlicher als auch öffentlicher Hinsicht am Hals gehabt, die selbst für einen so reichen und gut vernetzten Mann wie Johnny Duran nur schwer zu bewältigen gewesen wären.
Ellen war fast die ganze Nacht wach gelegen und hatte darüber nachgedacht, ob sie ihm die Wahrheit erzählen sollte. Einerseits hatte er ein Recht darauf zu erfahren, was tatsächlich vorgefallen war. Andererseits war er ein Mann, der sich am liebsten mit konkreten Dingen befasste: Ziegelsteine und Bretter, Genehmigungen und Grunddienstbarkeiten und Verträge. Es war nicht vorhersehbar, wie er reagieren würde, wenn er die ganze Geschichte erführe. Johnny hatte ein aufbrausendes Temperament, er konnte fies und gemein sein, und das wollte niemand von ihnen.
Ellen hätte sich niemals entschieden, bei der Familie ihrer Tochter zu leben, wenn nicht vor drei Jahren BJ Vadis auf einem Makler-Kongress vor ihren Augen tot umgefallen wäre. Sein Ableben hatte alles verändert. BJ war ihre große Liebe gewesen, spät in ihr Leben getreten, aber trotz der Verspätung nicht weniger wunderbar. Nach seinem Tod machten sie die leeren Zimmer und schweigenden Mahlzeiten, die schlaflosen Nächte und die langen, unausgefüllten Tage völlig verrückt. Sie konnte nicht arbeiten, also verkaufte sie die Firma. Aber nachdem sie diese letzte Verbindung zu BJ gekappt hatte, fühlte sie sich noch elender. Johnny hatte angeboten, ihr eine schicke Einliegerwohnung über der neuen Garage zu entwerfen, die er für seine Oldtimer gebaut hatte. Er sprach es nie aus, doch Ellen war das Geschäft klar. Als Gegenleistung für den Wohnraum mit Familienanschluss würde Ellen dazu beitragen, dass der Haushalt reibungslos funktionierte.
Sie hätte das Angebot ausschlagen können. Trotz des Konjunkturabschwungs und der Immobilienkrise hatte sie reichlich Geld. Theoretisch könnte sie überall auf der Welt leben, wo es ihr gefiel. Doch eine einzige Reise allein – eine grauenhafte Kreuzfahrt zu den Galápagos-Inseln – hatte genügt, um sie zu lehren, dass ein Tapetenwechsel kein Ausweg war. Wo immer sie auch hinginge, sie
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