Das Gewicht des Himmels
zusammen, dort oben auf ihrer Treppenstufe. »Warum ausgerechnet jetzt, nach so vielen Sommern, die das Haus verwaist war? Es sollte lieber so bleiben, wie es ist …«
Die Mutter unterbrach ihn. »Ob sie das Haus benutzen oder nicht, geht uns nichts an. Dich regt nur auf, dass eins der Boote von den Baybers dauernd fehlen wird, wenn er da ist. Aber das kannst du dem jungen Mann wohl kaum vorwerfen.«
Der Vater atmete hörbar aus – das Zeichen seiner Niederlage. »Versuchen kann ich’s jedenfalls.«
An einem Samstagabend vor drei Wochen waren sie angekommen, alle vier: Alice, ihre Eltern und ihre ältere Schwester Natalie. Sie waren verschwitzt und müde von der langen Fahrt. Als Alice am nächsten Morgen erwachte, sah sie als Erstes ihre Koffer, die offen auf dem Boden lagen, und die vielen Sachen, die daraus hervorquollen und darauf warteten, ausgepackt zu werden. Der Badeanzug, den sie nach dem Frühstück von der Wäscheleine holte und anzog, war noch feucht vom traditionellen Abendschwimmen am Tag zuvor und spannte. Ihr Vater hatte die wild lachende Alice und ihre Mutter mit Wasser bespritzt (woraufhin ihre Mutter dramatisch kreischte), und Natalie hatte am Ufer gestanden und ihnen mit verschränkten Armen zugesehen. Ihr Blick war kalt und aggressiv; seit sie wieder zurück war, hatte sie diesen Ausdruck perfektioniert. Alice wusste nicht, warum ihre Schwester die drei anderen Familienmitglieder so sehr ablehnte. Wieso bist du so ein Spielverderber?, hatte sie Natalie zugeflüstert – und damit absichtlich ein Wort benutzt, das ihre Schwester oft auf sie anwendete. Als keine Antwort kam, versetzte sie Natalie einen Puff in die Rippen. Du machst sie traurig. Du wirst alles kaputtmachen.
Vor ein paar Jahren hatte der Vater eine Maske für Alice gebastelt: aus Seegras und Tannennadeln, die er auf ein Stück hautfarbene Kiefernrinde klebte. Diese Maske hatte er mit dicker gelber Schnur vorn am Kanu befestigt und Alice dabei erklärt, ihre holländischen Vorfahren hätten geglaubt, in den Galionsfiguren der Schiffe lebten Wasserfeen, die die Seemänner vor allem Möglichen beschützten: vor Stürmen, engen und tückischen Passagen, Fieber und Unglück. Kaboutermannekes nannte er sie. Wenn das Schiff auf Grund lief oder gar sank, geleiteten die Kaboutermannekes die Seelen der Seefahrer ins Totenreich. Ohne eine Wasserfee, die ihr den Weg zeigen konnte, war die Seele eines Matrosen dazu verdammt, für immer auf See zu bleiben. Natalie, die unbeweglich am felsigen Ufer stand, hatte gestern allerdings nicht so ausgesehen, als würde sie ihre Familie vor irgendetwas beschützen wollen.
An jenem ersten Morgen lag Alice faul an der Bootsanlegestelle und hörte zu, wie ihre Eltern über alles Mögliche sprachen, das sie unternehmen konnten. Doch sie er hoben sich gar nicht erst aus ihren Liegestühlen, verlagerten höchstens mal das Gewicht. Mit Streifen weißer Sonnencreme im Gesicht und undurchsichtigen schwarzen Sonnenbrillen saßen sie da und hoben nur gelegentlich eine Hand, um Teile der Zeitung auszutauschen oder nach dem Bloody-Mary-Glas zu greifen. Als der Hund plötzlich auf der Anlegestelle stand und böse knurrte, zog Alices Mutter ängstlich die Füße hoch. Dann hörten sie eine Stimme aus dem Wald: »Neela! Neela, komm sofort her!«
»Sie ist wirklich harmlos, sie leidet bloß am ›Kleine-Hunde-Komplex‹«, sagte er. Alice war versucht zu entgegnen: »So habe ich Sie mir gar nicht vorgestellt«, biss sich aber auf die Zunge.
Vor der Hintertür zu Thomas’ Haus blieb sie stehen. Sie fasste die Bücher fester, holte tief Luft und wischte sich den Wald von den Füßen: einen Harzfleck, den Staub trockener Blätter, eine gelbe Moosschliere. Es war nicht das erste Mal, dass sie ihn besuchte, aber bisher hatten ihre Eltern immer genau gewusst, wo sie war, hatten ihr nachgewinkt und gerufen: »Benimm dich anständig und bleib nicht zu lange!« In diesem Moment wurde ihr klar, wie es war, Natalie zu sein – zu wissen, was man nicht tun durfte, und es trotzdem zu tun.
Die Farbe auf der Tür, ein ausgebleichtes Braun, das langsam zu Grau wurde, war gesprungen und rissig wie Alligatorenhaut. Als sie das Holz berührte, fielen dicke Flocken ab und segelten zu Boden. Sie krempelte den rechten Ärmel ihrer Bluse hoch, um den feuchten Ärmelaufschlag zu verstecken, den sie beim Lesen aus Versehen in den See gehängt hatte. Die Nässe war schon hochgestiegen und kühlte ein kleines Stückchen ihrer Haut, aber
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