Das Gewicht des Himmels
vor der Sonne zu schützen und ihn besser mustern zu können. »Kommen Neela und Sie öfter her?«
Er lachte, aber es war ein trockenes, sich überschlagendes Geräusch ohne jede Fröhlichkeit. »Um Himmels willen, nein. Meinen Eltern gehört dieses Haus seit Jahrzehnten, aber sie haben zu viel freie Zeit, um tatsächlich mal Urlaub zu machen. Wenn man reich ist, ist es nicht leicht, Entspannung zu finden. Da ist nämlich immer irgendwas, das man im Auge behalten sollte, und es gibt immer einen Termin, den man wahrnehmen muss.« Er schaute ihre Mutter an und fügte dann hinzu: »Mrs. Reston hat vielleicht erwähnt, dass sie ziemlich wohlhabend sind.«
Alice beobachtete, wie ihre Mutter schluckte und vor sich auf den Boden blickte, als müsste sie sich die Planken ganz genau ansehen. Ihr Vater verschluckte sich an seiner Bloody Mary. Dann lachte er und klopfte Thomas Bayber auf den Rücken. »Und Sie haben gesagt, Sie hätten die Frau nie kennengelernt. Ha!«
Thomas lächelte. »Bis jetzt haben die Umstände mich davon abgehalten, meine Zeit hier an diesem ruhigen Ort zu verbringen.« Er blickte auf den See. »Aber jetzt scheint es, als hätte mich eine eindringliche Stimme hierher gerufen, und sie ähnelt der meines Vaters ganz verblüffend. Ich bin also seit Juni hier und nutze das Sommerhaus meiner Eltern als Atelier. Ich bin Maler, wie Sie vielleicht schon erraten haben.« Er deutete auf seine Kleider. »Mein Vater findet allerdings, das sei kein ordentlicher Beruf.«
Er trat einen Schritt zurück und blinzelte. Mit verschränkten Armen musterte er sie. Alice fragte sich, wie sie für einen Fremden wohl aussahen. Ziemlich gewöhnlich vermutlich, wie ganz normale Leute, die man am Bahnhof oder auf der Straße sieht. Es gab nur ganz wenige Hinweise, die verrieten, dass sie irgendwie zusammengehörten: die Art, wie sie sich mit den Handflächen über die Haare fuhren; die ausgeprägten Schultern; die helle, zu Sommersprossen neigende Haut; ein bestimmter Gesichtszug, den sie gemeinsam hatten. Natalie hatte die kecke Nase der Mutter geerbt und Alice die hellblauen Augen des Vaters. Die schöne Schwester, die kluge Schwester, ein Vater, dessen Gesichtsausdruck über die Jahre ernster geworden war, eine Mutter, die wusste, wie man die Balance zwischen ihnen allen bewahrte: eine ganz gewöhnliche Familie.
Thomas nickte gedankenverloren. »Ihre Ankunft bietet mir eine wunderbare Gelegenheit. Darf ich Sie zeichnen? Alle zusammen, meine ich.«
»Also, ich weiß nicht …«
Thomas unterbrach den Vater: »Sie würden mir damit einen großen Gefallen tun, Sir. Diese idyllische Landschaft habe ich schon so oft gemalt. Birken, Tannen, Möwen, Waldschnepfen, Boote, die auf dem See kreuzen. Ehrlich gesagt, werde ich dabei langsam verrückt.«
Die Mutter lachte, bevor der Vater ablehnen konnte. »Es wäre uns eine Freude. Wie nett von Ihnen, uns darum zu bitten! Das ist wirklich spannend.«
»Sie können die Zeichnung dann behalten. Wer weiß, vielleicht ist sie eines Tages was wert. Aber es ist natürlich genauso wahrscheinlich, dass sie absolut nichts wert sein wird.«
Alice sah, dass ihr Vater im Geiste seine Optionen abwog. Wenn er das Angebot zurückwies, wäre die Mutter mit Sicherheit vier Wochen lang wütend auf ihn. Alice fragte sich, warum er zögerte.
»Na ja, wenn wir alle vier dabei sind, ist wohl nichts dagegen einzuwenden«, sagte er schließlich. »Alice haben Sie ja schon kennengelernt. Sie ist vierzehn, im Herbst kommt sie in die neunte Klasse. Sie ist unsere Hobby-Ornithologin. Und das ist Natalie, unsere Älteste. Nächsten Monat wechselt sie in die dritte Klasse der Walker Academy.«
Da fiel Alice auf, dass ihre Schwester nicht ein einziges Mal aufgesehen hatte – so gefesselt schien sie von dem Buch, das sie gerade las. Seltsam, wenn man bedachte, dass Natalie es gewohnt war, im Mittelpunkt zu stehen. Sie hatte die Anziehungskraft eines glänzend polierten neuen Spielzeugs. Ihr Äußeres lockte junge Männer scharenweise auf ihre Veranda, wo sie sich um kleine Gefälligkeiten für Natalie balgten. Sie brachten ihr Limonade, wenn ihr heiß war; sie boten ihr einen Pullover an, wenn ihr kalt war; sie verscheuchten Fliegen, die ihrem Schwerefeld zu nahe gekommen waren. Auch Alice war dem Zauber ihrer Schwester erlegen. Heimlich übte sie Natalies Eigenarten vor dem Spiegel ein, und wenn Alice ihre abgelegten Kleider bekam, nahm sie sie mit stiller Freude an. Manchmal wünschte sie sich auch ein
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