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Das Gewicht des Himmels

Das Gewicht des Himmels

Titel: Das Gewicht des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Guzeman
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war schade, dass sie nur ungefähr ahnte, was die Dichterin ausdrücken wollte, dass sie die Verse nicht bis ins Letzte verstand. Inzwischen war die Seite mit dem Gedicht »Ich bleibe« zerknittert, übersät mit Sandkörnern, versehen mit Alices feuchtem Daumenabdruck in der Ecke. … liege ich wie verbrauchtes Land, wenn der Frühling kommt … In den Zeilen lagen Geheimnisse, die sie nicht ergründen konnte.
    Wenn sie Thomas darum bat, würde er ihr das Gedicht erklären, ohne diese typisch vage Erwachsenensprache zu gebrauchen oder Unwissen vorzutäuschen. Aber wenn sie mit Thomas zusammen war, lernten sie voneinander. Er schulte sie in Jazz, Bossa nova und Bebop und spielte ihr, während er malte, seine Lieblingsmusiker vor: Slim Gaillard, Rita Reys, King Pleasure und Jimmy Guiffre. Dabei stach er jedes Mal, wenn er sie auf eine wichtige Stelle aufmerksam machen wollte, mit dem Pinsel in die Luft. Im Gegenzug zeigte sie ihm die neuesten Seiten aus ihrem Vogelbeobachtungsbuch: Skizzen der Sumpfohreule, der Nordamerikanischen Pfeifente, des Zedernseidenschwanzes und des Waldlaubsängers. Sie erklärte ihm, dass der harmlos aussehende Louisianawürger seine Beute tötete, indem er ihr in den Hals biss und dabei das Rückenmark durchtrennte. Dann konnte er das Opfer auf Dornen oder Stacheldraht aufspießen und es in Stücke reißen.
    »Um Himmels willen«, sagte er schaudernd. »Das ist ja ein wahrer Horrorvogel!«
    Sie vermutete, dass er sich durch ihre Besuche nur zu gern von der Arbeit abhalten ließ, brachte ihn aber mit ihren Beschreibungen der Einheimischen gerne zum Lachen: Tamara Philson, die ihre lange Perlenkette ständig trug, selbst am Strand, seit sie von einem Einbruch in der Nachbarstadt gehört hatte. Die Sidbey-Zwillinge, deren Eltern sie immer genau gleich anzogen, bis hin zu den Haarspangen und Schnürsenkeln. Auseinanderhalten konnte man sie nur durch einen lilafarbenen Punkt, den Mr. Sidbey einer der beiden aufs Ohrläppchen gemalt hatte. Alice, hatte Thomas gesagt, du bist das beste Mittel gegen Langeweile .
    Sie spähte durch die Birkenstämme zum hinteren Teil des Hauses hinüber. Wenn sie zu lange wartete, bis sie anklopfte, hatte er vielleicht schon angefangen zu arbeiten. Dann riskierte sie, ihn dabei zu stören, und er wäre schroff und kurz angebunden. In solchen Momenten kam er ihr vor wie ein wildes Tier, wie die Katzen zu Hause, die sie hinter den Holzstapel lockte, um sie einzufangen. Niemals hätte sie sich getraut, uneingeladen vorbeizukommen (er hatte zwar eine Einladung ausgesprochen, aber nur eine ganz vage); darum näherte sie sich ihm lieber ganz vorsichtig.
    Kommt doch mal vorbei, hatte er am ersten Tag im Kreis ihrer Familie gesagt, nachdem er sich vorgestellt hatte. Er war plötzlich aus dem Wald aufgetaucht, um seinen Hund zurückzuholen. Das Tier sprang aufgeregt um ihn herum, während sie miteinander am Anlegeplatz standen. Aber er hätte sich kaum vorzustellen brauchen – sie wussten genau, wer er war.
    »Dieser Künstler«, so bezeichnete ihn ihr Vater. Im selben Ton hätte er auch »diese Schwuchtel« oder »dieser Axtmörder« sagen können. Alice saß auf ihrem geheimen Beobachtungsposten oben an der Treppe, von dem aus sie die Unterhaltungen ihrer Eltern heimlich belauschte, und zwar schon lange, ehe sie zum ersten Mal an den See fuhren.
    »Myrna findet, dass er Talent hat«, hatte ihre Mutter gesagt.
    »Na klar, sie kann das bestimmt beurteilen, mit ihrer Erfahrung auf dem Gebiet der … was macht er noch mal?« Ihr Vater klang so aufgebracht wie immer wenn man ihn mit Myrna Restons Erfahrung auf unendlich vielen Gebieten konfrontierte.
    »Du weißt ganz genau, was er macht. Er ist Maler. Sie sagt, er hat ein Stipendium der Royal Academy bekommen.«
    Ihr Vater schnaubte unbeeindruckt. »Maler! Das heißt, die Leute bezahlen ihn dafür, dass er ihren Schnaps trinkt und ihren Töchtern schöne Augen macht und den Rest der Zeit auf einem Stuhl sitzt und an einem Pinsel lutscht. So einen Job hätte ich auch gern.« Alice konnte direkt vor sich sehen, wie ihr Vater die Augen verdrehte.
    »Du brauchst nicht sarkastisch zu werden, Niels.«
    »Ich bin nicht sarkastisch. Ich will bloß nicht, dass meine Familie so einem Künstler in den Arsch kriecht. Wir haben schon genug am Hals mit …« Eine Pause entstand, und dann war nur noch Geflüster zu hören. Alice wusste, dass sie über Natalie redeten. Dann dröhnte die Stimme ihres Vaters wieder durchs Haus, und sie zuckte

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