Das Gift des Boesen
auf.
Ungehindert verlasse ich den Friedhof durch seinen hinteren Ausgang. Unterwegs begegne ich denen, die das zweite Tor bewacht haben, dann aber von den Schüssen weggelockt wurden. Auch sie sind mitten im Lauf erstarrt, und selbst ihrer Starre wohnt noch eine solche Dynamik inne, daß ich bis zuletzt damit rechne, sie könnten wieder daraus erwachen, noch während ich sie passiere.
Dann bin ich draußen vor der Friedhofsmauer, und auch hier schwebt die Spur, der ich folge, weiter untrüglich in der zähen Luft.
Durch eine Stadt, die nicht einfach schläft, sondern deren Schlaf wie der Herzschlag der Schläfer angehalten ist, gelange ich zu einem windschiefen Haus am Ende einer Sackgasse. Dort endet die Spur. Dort hinein ist das Gespenst, das tote Kinder stiehlt, verschwunden In dem Moment, da ich über den Pfad des verwilderten Vorgärt-chens auf das Haus zu laufe, endet der Stillstand der Zeit so plötzlich, wie er begonnen hat, und für mich fühlt es sich an, als reiße tief in mir selbst eine allzu straff gespannte Saite.
Aus der Ferne bellen Schüsse, und ich habe den Eindruck, daß die Soldaten auf dem Friedhof nahtlos weitermachen, wobei sie - ohne es zu merken - unterbrochen wurden.
Das Krachen der Flinten hört jedoch sehr rasch wieder auf, weil das aufs Korn genommene Ziel verschwunden ist.
Ich.
Nur wenig später merke ich, daß ich wieder aus den Wunden blute, die mir zugefügt wurden; und auch der Schmerz kehrt zurück. Erst spüre ich ihn nur vage, dann verschlingt er mich wie eine schwarze Woge.
Ich merke schon nicht mehr, wie ich auf den Pfad aufschlage.
*
Als ich aufwache, liege ich in einem Bett. Ein buckliger Mann ist bei mir. Er sagt: »Danke dem Herrn - du wirst nicht sterben!«
Ich blicke an mir herab und bemerke, daß ich wieder ich bin - die uralte und doch junge Frau in glatter Haut.
Was ist geschehen? War ich so lange ohne Bewußtsein, daß der abnehmende Mond mir seine Gunst entzogen hat?
»Wo bin ich?« Meine Stimme ist belegt. Den Buckligen stört es nicht. Und seinen Herrgott, der mich noch nie beachtet hat, sicher auch nicht.
Der Größe nach könnte er der Vermummte sein, den ich auf dem Friedhof sah. Doch ich glaube nicht, daß mir seine Verwachsungen entgangen wären. Nicht einmal der Umhang hätte sie verbergen können.
»Im Haus des Herrn.«
»Eine - Kirche?« Ich sehe mich um.
Der Bucklige blinzelt verwirrt. »Der Herr wird sich bald um dich kümmern. Er ist noch ... beschäftigt.«
Da erst dämmert mir, daß von Anfang an nicht von dem Gott, an den so viele glauben und an dem sich so viele festhalten, die Rede war.
Ich blicke an mir herab. Ich bin nackt. Nicht einmal zugedeckt. Meine Kleider liegen noch in dem Kräutergarten, in dem ich sie ab -streifte. Vergeblich suche ich nach den Schußwunden; vergeblich lausche ich auch in mich auf der Suche nach den draußen noch verspürten Schmerzen. Ich glaube Narben zu entdecken, die kaum mehr als Schatten auf meiner sonst makellosen Haut sind. Nirgends ist mehr Blut. Überhaupt fühle ich mich unglaublich sauber.
Wie sonderbar.
Ich bin jetzt sicher, daß ich mich in dem Haus befinde, vor dem ich zusammenbrach. Hat der Bucklige mich aufgehoben und hineingetragen? Hat er mich gewaschen?
Ich weiß, daß der Keim aus dem Lilienkelch, den Landru mir einst zum Geschenk machte, Krankheiten von mir fernhält und auch Wunden schneller heilen läßt. Aber ich war vollgepumpt mit Blei, habe Unmengen Blut verloren, und daß mein Körper sich nun präsentiert, als wäre ihm all dies nie zugestoßen, weckt ganz zwangsläufig mein Mißtrauen.
In diesem Augenblick geht die Tür auf. Ich richte mich auf, stütze mich auf die Ellbogen, weil ich erwarte, den Herrn des Buckligen kennenzulernen und vielleicht Antworten auf die Fragen zu erhalten, die mir auf der Zunge brennen.
Aber es ist eine Frau, die eintritt.
Ein zerfressenes Gesicht grinst mich an und keift: »Bilde dir nur nichts ein - ich war auch mal schön! Er kann's bezeugen!«
Der Verwachsene nickt eifrig. Die Frau, an der jeder sichtbare Zoll Haut wie mit Säure übergossen aussieht, stellt einen Krug mit Wasser auf den Tisch neben dem Bett, in dem ich liege, und wendet sich mit einem grotesk affektierten Hüftschwung wieder der Tür zu. Selbst ihre Augen sind zerfressen, und es ist mir unerklärlich, wie man damit noch sehen kann.
»Warte!« rufe ich.
Sie bleibt stehen und dreht sich zu mir um.
»Was ist mit dir passiert?«
»Dasselbe, was jedem einmal blühen
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