Das Gift des Boesen
mit einem erneuten mächtigen Sprung in Sicherheit zu bringen, tauchen auch dort oben auf dem Mauerkamm Gestalten auf. Sie müssen Leitern angestellt haben. Die Mündungen häßlicher Waffen drohen in meine Richtung, während mich ein Schuß in den Rücken vorwärts taumeln läßt. Der Schmerz ist erträglich, aber als ich den Kopf wende und über die Schulter blicke, sehe ich sie nebeneinander kommen. Ihre Gesichter sind verschwitzt, haß- und grauenerfüllt.
Der Schein ihrer Lampen und das Licht des Mondes offenbaren ihnen ein Wesen wie aus Alpträumen geboren. Wieder krachen Schüsse. Wieder werde ich getroffen, von zwei, drei Kugeln dicht hintereinander.
Ich falle auf die Knie. Hinter mir erklingen triumphale Schreie. Sie wissen nicht, was sie tun. Sie wissen nicht, wer ich bin. Aber genau das macht sie gefährlich .
»Gleich haben wir es!«
»Wir müssen ihm den Kopf abschlagen!«
»Dieses Monstrum hat die Kinder gestohlen! Dafür wird es büßen! Der Scheiterhaufen wird es fressen!«
»Das Fell ... Laßt mir das Fell ...!«
Ich wünschte, ich könnte ihm die Zunge herausreißen, diesem elenden Schacherer! Aber vorher werden sie mir noch Ärgeres zufügen!
Mein Blick trübt sich. Ich blute aus vielen Wunden. Mein Lebenssaft rinnt auf das Grab, auf dem ich niedergesunken bin. Für Landru und seinesgleichen wäre es reiner Nektar - das Elixier des gespenstisch-zeitlosen Daseins, das sie führen .
Ich krümme mich zusammen, mache mich so klein, wie ich kann. Es wird nichts nützen. Sie sind unbarmherzig, und sie tun gut daran, denn ich werde die geringste Schwäche nutzen und so viele von ihnen mit ins Jenseits nehmen, wie ich kann!
Noch näher kommen sie, schießen, was das Zeug hält, und mein Körper fängt die Kugeln auf. Dazwischen höre ich Säbelgerassel. Doch all dies - verstummt ganz plötzlich, und alles, was bleibt, ist Stille von ohrenbetäubender Dimension.
Bin ich tot? Hat mir einer der Gesellen in den Kopf geschossen und mein Hirn über die Gräber zerstreut? Ich hebe den Kopf und sehe, was geschehen ist.
Sehe, aber begreife es nicht.
Die Szene wirkt wie erstarrt, und die Soldaten, als wären sie von Eis umgeben und darin erfroren!
Kein Ton spaltet die Stille. Selbst der Wind hat aufgehört zu wehen und die Blätter im Gesträuch zu bewegen. Alles und jedes hält den Atem an, aber auf eine so beklemmende Weise, daß ich mich vor dem Zusammenbruch dieses irrealen, schon viel zu lange andauernden Moments fürchte, wie ich mich vor noch nichts anderem gefürchtet habe .
Ich richte mich auf und sehe staunend, daß meine Wunden aufgehört haben zu bluten. Sie haben sogar aufgehört zu schmerzen!
Und überhaupt . Wieso kann ich mich als einzige weiterhin bewegen, als wäre nichts geschehen .?
Zwei Gedanken später regt sich doch etwas am Rande meines Blickfelds. Ich sehe genauer hin und erkenne eine Gestalt in einem Umhang, dessen Kapuze über den Kopf gezogen ist und ihn verdeckt. Der Saum des Stoffes reicht bis auf den Boden. Die Gestalt ist auffallend klein, als verberge sich unter dem Umhang ein Kind.
Zunächst kehrt mir die unheimliche Erscheinung den Rücken, doch als sie auf einen der Nebenpfade des Friedhofs wechselt, sehe ich sie im Profil und erkenne, daß sie etwas auf ihren Armen trägt.
Ich weiß nicht, warum es mir die Kehle zuschnürt; warum mich der Anblick des kleinen Kindes in seinem weißen Totenhemd so sehr erschrickt, daß ich mich vor Zittern kaum noch auf den Beinen halten kann.
Oder fordern die Schußverletzungen nun doch ihren Tribut?
Ich wanke ein paar Schritte nach vorn, stolpere über einen der Toten, die auf mein Konto gehen, und falle.
Als ich mich wieder aufrichte, ist der kleinwüchsige Leichendieb wie vom Erdboden verschluckt. Und immer noch stockt der Zeit der Atem!
Ich frage mich, ob dieses zweifellos magische Phänomen auf den Friedhof begrenzt ist, oder ob es die ganze Stadt umschlingt und fes-selt.
Der Mond beantwortet mir meine Frage. Er glotzt fahl auf mich herab, und sein rundes Auge ist von Wolkenschlieren getrübt, die an ihm kleben, nicht mehr daran vorbeiziehen wie vorhin noch!
Wie selbstverständlich suche ich die Stelle auf, an der ich die Gestalt in Umhang und Kapuze zum letzten Mal bemerkte. Die Fährte, die sie hinterlassen hat, ist von solcher Wucht (ja, Wucht), daß es mich erneut überkommt, als würde mir der Boden unter den Füßen entzogen. Mir schwindelt, doch mit Mühe halte ich dem Ansturm stand und nehme die Witterung
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