Das Gift des Sommers: Thriller (German Edition)
luftig, und die Straße war sicher. Es war nicht das Studentenleben, das ich erwartet hatte: Wir verbrannten keine Räucherstäbchen, klauten keine Verkehrskegel und schliefen nicht bis mittags. Aber es war so anders als mein altes Leben, dass es mir vorkam wie ein Fortschritt.
Die anderen drei waren neunzehn, ich erst siebzehn; sie hatten zwischen Schule und Uni ein Jahr ausgesetzt und wirkten auf mich welterfahren und kultiviert. Ihre Welt war die Welt der Tennisklubs, Aerobic-Kurse, Theater und Restaurants. Aber wenn es ihrer Freundschaft an unbürgerlicher Abenteuerlichkeit fehlte, so machten sie es dadurch wett, dass sie mich an ihrer Erfahrung teilnehmen ließen, und das war nach der Einsamkeit der Schule eine Offenbarung. Wir unternahmen alles zusammen, auch unsere Reisen. Queen Charlotte’s hatte ein einzigartiges Netz von Partner- und Austauschprogrammen mit ähnlich exzentrischen Sprachen-Departments in ganz Europa, und zum Studium gehörten häufige und intensive Exkursionen ins Ausland. Ich hatte immer Mitleid mit den Austauschstudenten, die von den großen, alten Universitäten kamen und sich in dem irreführend so genannten International House untergebracht sahen, einer schäbigen kleinen Mietskaserne unter der Straßenüberführung an der Edgware Road. Wir dagegen nutzten das System zu unserem Vorteil und warfen unsere Reisestipendien zusammen, sodass wir uns ein Auto mieten konnten, statt vier einzelne Fahrkarten zu kaufen, und wir wohnten zusammen in einem Apartment, nicht in Hotelzimmern. Am Ende des vierjährigen Studiums gab es kaum noch Museen oder Kunstgalerien in Westeuropa, die wir nicht schon besucht hatten. Wir aßen zusammen, und beim Kochen, Einkaufen und Waschen wechselten wir uns ab. Alle acht Wochen kam eine Friseurin zu uns nach Hause und verpasste uns allen den gleichen Haarschnitt. Auch unsere Dates legten wir zusammen; wir alle fingen etwas mit Mitgliedern der Rugbymannschaft des Colleges an, als die ihren Weihnachtsball 1994 veranstalteten, eine aufgemotzte Discofete an Bord der HMS Belfast. Simon, ein Fullback, der einen eigenen Smoking besaß, forderte mich zum Tanzen auf. Als ich herausfand, dass Eleganz und Koordination auf dem Rugbyfeld und der Tanzfläche nicht unbedingt auch ins Schlafzimmer übertragbar sind, war unsere Beziehung bereits fest etabliert, außerdem mochte und bewunderte ich ihn. Jedes Wochenende las er sämtliche seriösen Zeitungen von vorn bis hinten. Er rief immer an, wenn er es versprochen hatte. Er zeigte mir, wie man ein Steak mariniert und wie man den richtigen Wein dazu aussucht. Er war der erste Mensch, von dem ich den Begriff » New Labour« hörte.
Meine Eltern hatten Angst gehabt, das Studentenleben könnte mich » aus der Bahn« werfen. Tatsächlich hatte ich ihnen Anlass gegeben, das Gegenteil zu befürchten: Mein Vater warf mir einmal vor, ich sei mit zwanzig schon im mittleren Alter. Ich schrieb es seiner eigenen Unsicherheit zu: Es muss ihm schwergefallen sein zu sehen, wie ich aus der Welt, in die ich hineingeboren worden war, hinauswuchs und mich einer anderen Klasse mit neuen und einschüchternden Regeln und Werten assimilierte. Ich war glücklich darüber, Freundinnen zu haben, dazuzugehören und Fortschritte zu machen. Als mein Collegekurs sich dem Ende näherte, war die einzige offene Frage die, ob ich weiterstudieren oder eine Praktikantinnenstelle irgendwo in einer Botschaft annehmen würde. Ich hatte beschlossen, diese Entscheidung dem Schicksal zu überlassen und die erste Gelegenheit zu ergreifen, die sich mir bot. Ich hielt mein Leben locker in der Hand, ohne zu ahnen, dass es kurz davor stand, mich aus seinem Griff zu entlassen. Innerhalb einer Woche wich meine Gleichgültigkeit einer Leidenschaft, die ich mir nicht annähernd zugetraut hatte.
Ich nahm den Ordner von einer Hand in die andere. Es war ein stattlicher Stapel Papier, säuberlich aufeinandergelegt, gelocht und mit Baumwollbändchen zusammengeheftet. Die Seiten enthielten zwanzigtausend Wörter meiner Examensarbeit, einem Vergleich des metafiktiven Dramas im Italienischen und Deutschen, einem Unternehmen, das so humorfrei war, wie es sich anhört. Das obligatorische Literaturmodul war der einzige Bestandteil meines Diplomstudiums, der mir nicht leichtgefallen war, aber nachdem ich die Arbeit abgegeben hatte, war mein Examen praktisch vorbei. Nur eine Handvoll Prüfungen blieb noch zu absolvieren, und Prüfungen gehörten zum einfachen Teil– auch wenn ich aus
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