Das Gift des Sommers: Thriller (German Edition)
aber sie spielt nur ein paar Schritte weit von der Stelle entfernt, wo sie gezeugt wurde. Rex spricht als Erster.
» Ich nehme an, es muss sein.« Er geht um den Wagen herum und öffnet meine Tür. Ich steige aus, zeige mit dem Schlüsselbund auf den Wagen, und die Verriegelung rastet leise ein. » Sehr edel«, sagte er, nimmt mir den Schlüssel ab und begutachtet ihn, als enthielte er ein ganzes Album mit High-Energy-Dance-Tracks. Ich schließe die Augen und drehe mich um, und als ich sie öffne, ist es da. Genau da, wo wir es zurückgelassen haben, glaube ich– aber wohin hätte es auch gehen sollen? Dieses viergeschossige Stadthaus, umgeben nicht von Autos und Beton, sondern von Linden und Platanen, Birken und Eichen, die Fassade halb aus Stuck, halb aus grauem Backstein– es gehört eigentlich ans Ende einer Häuserzeile in Islington oder Hackney. Seine Deplatziertheit hat mit dafür gesorgt, dass seine Anwesenheit am Rand des Waldes immer so magisch erschien. Natürlich hat es sich verändert. Es sieht nackt aus, sauberer und großstädtischer denn je, nachdem jetzt jemand den dunkelgrünen Efeu heruntergerissen hat, der die ganze Seitenwand und die halbe Vorderfront bedeckt und im Sommer auch den Weg durch die Fenster gefunden hat. Der cremefarbene Stuck leuchtet, und der Anstrich hat nirgends einen Riss und blättert nicht. Unschuldig sieht es aus. Aber das tue ich auch.
Die abblätternde schwarze Farbe der Haustür ist durch einen makellosen türkisblauen Lack ersetzt worden, und der Türklopfer, ein goldener Löwenkopf, glänzt blank. Die steile Vordertreppe– früher eine Todesfalle mit längst verwelkten Kräuterbüscheln in zerbrochenen Terracottatöpfen, einzelnen Rollerskates, leeren Weinflaschen und lokalen Anzeigenblättchen, die niemand je las– ist ebenfalls instand gesetzt worden, und jetzt wird die Tür von zwei perfekt symmetrischen Lorbeerbäumchen mit spiralig gedrehten Stämmen in Aluminiumkübeln flankiert. Sechs Recyclingcontainer stehen sauber und diskret hinter einem Magnolienbaum im Vorgarten. Anstelle des nicht funktionierenden Glockenzugs, mit dem niemand sich abgegeben hat, sind da sechs Klingelknöpfe. Als ich das allererste Mal hier war, habe ich zehn Minuten lang nach einer solchen Reihe von Klingeln mit Namen gesucht. Ich kam nicht auf den Gedanken, dass Leute meines Alters dieses ganze Haus bewohnen könnten, nicht nur ein Apartment darin. Ich brauche nicht näher heranzugehen, um zu wissen, wie es sich innen verändert hat. Ohne durch die Fenster mit den weißen Läden zu spähen, weiß ich genau, wie das Innere dieser Apartments aussehen wird: Kokos- oder Sisal-Teppichböden, weil die abgenutzten Bodendielen selbst durch den engagiertesten Immobiliensanierer nicht mehr zu retten waren. Der in Schwarz-Weiß gehaltene Hausflur wird renoviert worden sein, ein Originalbestandteil, der den Hauspreis erhöht haben dürfte. Als wir dort wohnten, war er in einem schrecklichen Zustand, und nachher war da noch dieser furchtbare Fleck…
An den cremeweißen Wänden werden Flachbildschirmfernseher hängen, es gibt Edelstahlküchen, und jedes viereckige weiße Schlafzimmer hat sein eigenes, mit Milchglasscheiben abgetrenntes Bad. Es ist verkauft worden, aber erst lange nachdem Polizei und Presse abgezogen waren. Mit Sanierung und Umbau wurde begonnen, als das gelbe Polizeiband abgenommen war und Kameras und Reporter weitergezogen waren. Erst dann fielen die Makler über das Haus her. Ich habe mir oft vorgestellt, wie dieser Schwarm in Anzügen die von den Reportern weggeworfenen Kaffeebecher aus Styropor und Pappe zertrampelte, wie über die grausige Geschichte dieses Hauses hinweggeschaut und nur die seltene Gelegenheit gesehen wurde, ein sinnvoll umgewandeltes Objekt mit Charakter zu verkaufen, in äußerst bevorzugter Lage, nur ein paar Sekunden von der U-Bahn und dem Rand des historischen Queen’s Wood entfernt.
Die heftige körperliche Reaktion, mit der ich halb gerechnet habe– Schwindelgefühle, eine richtige Ohnmacht, sogar Erbrechen–, stellt sich nicht ein. Auch Rex ist ruhig und unergründlich, und er ist es, der die meisten und die grausigsten Erinnerungen an dieses Haus hat. Er hat vierundzwanzig Jahre hier gewohnt, ich nur einen Sommer. Alice reißt mich aus meinen Gedanken; sie fällt anderthalb Meter tief von einem Ast herunter, ohne dass ich gesehen habe, wie sie hinaufgeklettert ist. Sie fängt an, sich zu langweilen, und bittet Rex, ihr eine Dose Cola zu kaufen,
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