Das Glasperlenspiel
Sitte ist es, der wir die drei während seiner Studienjahre geschriebenen Lebensläufe Knechts verdanken. Es handelt sich bei ihnen also nicht, wie bei den in Waldzell entstandenen Gedichten, um eine rein freiwillige und inoffizielle, ja heimliche und mehr oder weniger verbotene Art von literarischer Tätigkeit, sondern um eine normale und offizielle. Schon in den frühesten Zeiten der pädagogischen Provinz war die Sitte aufgekommen, die Jüngern Studierenden, das heißt die noch nicht in den Orden
Aufgenommenen, je und je zur Abfassung einer besonderen Art von Aufsatz oder StilÜbung anzuhalten, nämlich eines sogenannten »Lebenslaufes «, das heißt einer fiktiven, in eine
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beliebige Zeit zurückverlegten Selbstbiographie. Der Schüler hatte die Aufgabe, sich in eine Umgebung und Kultur, in das geistige Klima irgendeiner frühern Epoche zurückzuversetzen und «ich darin eine ihm entsprechende Existenz auszudenken; je nach Zeit und Mode war das kaiserliche Rom, das Frankreich des siebzehnten oder das Italien des fünfzehnten Jahrhunderts, das perikleische Athen oder das Österreich der Mozartzeit bevorzugt, und bei den Philologen war es Sitte geworden, daß sie ihre Lebensromane in der , Sprache und im Stil des Landes und der Zeit abfaßten, in welchen sie spielten; es gab zuzeiten höchst virtuose Lebensläufe im Kurialstil des päpstlichen Rom um das Jahr 1200, im Mönchslatein, im Italienisch der »Hundert Novellen«, im Französisch Montaignes, im Barockdeutsch des Schwans von Boberfeld. Es lebte ein Rest des alten asiatischen Wiedergeburts- und Seelenwanderungsglaubens in dieser freien und spielerischen Form hier fort; allen Lehrern und Schülern war die Vorstellung geläufig, daß ihrer jetzigen Existenz frühere vorangegangen sein könnten, in anderen Körpern, zu andern Zeiten, unter andern Bedingungen. Dies war nun freilich nicht etwa ein Glaube im strengen Sinn, noch viel weniger war es eine Lehre; es war eine Übung, ein Spiel der Imaginationskräfte, sich das eigene Ich in veränderten Lagen und Umgebungen
vorzustellen. Man übte sich dabei, so wie man es in vielen stilkritischen Seminaren und so oft auch im Glasperle nspiele tat, im behutsamen Eindringen in vergangene Kulturen, Zeiten und Länder, lernte seine eigene Person als Maske, als vergängliches Kleid einer Entelechie betrachten.
Die Sitte, solche Lebensläufe zu schreiben, hatte ihren Reiz und hatte manche Vorzüge, sie hätte sich sonst wohl auch nicht so lange erhalten. Übrigens war die Zahl der Studierenden gar nicht so sehr klein, welche nicht nur an die Idee der Reinkarnation mehr oder weniger glaubten, sondern auch an die Wahrheit ihrer eigenen erfundenen Lebensläufe. Denn natürlich waren die meisten dieser imaginierten Vorexistenzen nicht nur
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Stilübungen und historische Studien, sondern auch
Wunschbilder und gesteigerte Selbstbildnisse: die Verfasser der meisten Lebensläufe schilderten sich in demjenigen Kostüm und als denjenigen Charakter, als welcher zu erscheinen und sich zu verwirklichen ihr Wunsch und Ideal war. Des weiteren waren die Lebensläufe, pädagogisch kein schlechter Gedanke, ein legitimer Kanal für das dichterische Bedürfnis des jugendlichen Alters. War auch seit Generationen das eigentliche, ernsthafte Dichten verpönt und teils durch die Wissenschaften, teils durch das Glasperlenspiel ersetzt, so war doch der Künstler- und Gestaltungstrieb des Jugendalters nicht erledigt; er fand in den Lebensläufen, welche ach oft bis zu kleinen Romanen
erweiterten, ein erlaubtes Feld der Betätigung. Auch mochte mancher Verfasser dabei die ersten Schritte ins Land der Selbsterkenntnis tun.
Übrigens kam es auch des öfteren vor und stieß bei den Lehrern meistens auf wohlwollendes Verständnis, daß
Studierende ihre Lebensläufe zu kritischen und revolutionären Auslassungen über die heutige Welt und über Kastalien benutzten. Außerdem aber waren diese Aufsätze für die Lehrer gerade während der Zeit, in welcher die Studierenden die größte Freiheit genossen und keiner genauen Kontrolle unterlagen, sehr aufschlußreich und gaben ihnen über das geistige und moralische Leben und Befinden der Verfasser oft überraschend deutliche Auskunft.
Von Josef Knecht sind drei solche Lebensläufe erhalten, wir werden sie wortgetreu mitteilen und halten sie für den vielleicht wertvollsten Teil unseres Buches. Ob er nur diese drei Lebensläufe geschrieben habe, ob nicht einer oder der andere verlorengegangen
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