DAS GLÜCK IM AUGENWINKEL 3: Edition Nancy Salchow (German Edition)
mich bei einem Anruf oder einem Besuch in deinem Laden überhaupt zu Wort kommen ließest. Ich hoffe, dass du diesen Brief lesen wirst, zumal ich deine Adresse von einer Frau bekommen habe, die du kennst und die dir versichern würde, dass ich nicht verrückt bin. Judith Jäger, erinnerst du dich?
Aber ich schreibe dir nicht, um dich zu überzeugen, dass ich nicht verrückt bin. Es war dumm von mir zu glauben, dass du mir diese Geschichte abkaufen würdest, und es tut mir leid, dass ich sie dir erzählt habe, ohne auch nur den geringsten Beweis in der Hand zu haben. Ich selbst würde mir nicht glauben. Wie kann ich es da von dir erwarten?
Alles, was ich tun kann, ist, dich um Verzeihung zu bitten. Dafür, dass ich dich gleich bei unserem ersten Treffen damit überfallen habe. Dafür, dass ich das Vertrauen, dass ich zwischen uns zu spüren geglaubt habe, trotz der Tatsache, dass wir uns nicht kennen, für ausreichend gehalten habe, um dir den Grund für meine Suche nach dir zu offenbaren. Es tut mir leid. Alles. Und ich könnte es verstehen, wenn dieser Brief jetzt in tausend kleinen Fetzen in deinem Papierkorb liegt. Niemand könnte es dir verübeln.
Ich kann nicht von dir erwarten, dass du die Geschichte mit dem Buch verstehst, deshalb werde ich sie von nun an auch nicht mehr erwähnen. Die Frage ist nur: Gibt es überhaupt ein "von nun an"? Ich könnte verstehen, wenn du mich nicht wiedersehen willst, ganz gleich, ob uns dasselbe Schicksal miteinander verbindet oder nicht. Du hast in den letzten Monaten eine Menge durchgemacht. Genau wie ich. Da reagiert man auf unglaubwürdige Dinge (und Menschen) sicher viel empfindlicher, als man es unter anderen Umständen getan hätte. Alles, was ich dir sagen kann, ist, dass ich weiß, wie du dich fühlst, Nita. Und dass mein Wunsch, jemanden zu finden, der weiß, was ich fühle, der Grund dafür war, dich aufzusuchen. Dir von dem Buch zu erzählen. Dir einfach alles zu erzählen. Wenn ich die Gelegenheit dazu hätte.
Seitdem ich Emma verloren habe, ist nichts mehr, wie es war. Ich bin nicht mehr derselbe. Anfangs habe ich mich in einer Art Nebel verloren, wie unter einer Glocke gelebt, nichts mehr von der Außenwelt wahrgenommen, geschweige denn an mich herangelassen. Alles, absolut alles, war egal. So sehr meine Mitmenschen, ganz besonders meine Schwester Marie, versucht haben, mich davon zu überzeugen, dass das Leben nach wie vor lebenswert ist, so sehr habe ich mir gewünscht, mich nur ein einziges Mal nicht erklären zu müssen. Niemandem verständlich machen zu müssen, warum es so viel leichter für mich ist, die Augen zu verschließen, anstatt sie offen zu halten. Und immer wieder habe ich mich gefragt, ob es jemanden gibt, der verstehen kann, was ich fühle.
Es ging nie um den eigentlichen Verlust. Sicher habe ich Emma vermisst, gelitten, sehr gelitten, von einen Tag auf den anderen ohne sie zu sein. Aber in Wahrheit war es viel mehr als das. Es war diese fast lähmende Unfähigkeit, meine Gefühle in Worte zu fassen. Nicht für jemand anderen. Für mich . Ich wollte es mir selbst erklären, ihn für mich selbst benennen können, diesen einen mächtigen Gedanken, von dem ich bis heute nicht weiß, ob er Frage oder Antwort ist. Ob er mir helfen kann oder das Ganze umso schmerzlicher für mich machen würde. Ich weiß nur, dass er in mir steckt. Immer wieder glaube ich, dass ich aufhören könnte, mich selbst zu quälen, wenn es mir gelingen würde, diesen Gedanken, dieses Gefühl in Worte zu fassen. Aber ist das wirklich die Antwort? Kann mir das wirklich helfen? Und warum kann ich mich nicht damit abfinden, dass es vielleicht niemals gelingen wird, es in Worte zu fassen?
Vielleicht ist das der Grund, warum ich auf das Wissen um deine Existenz geradezu besessen reagiert habe. Ich wollte dich finden, wollte wissen, wie du all diese Dinge verarbeitest und ob (und wenn ja, wie) es dir gelingt, deinem Leben einen neuen Sinn zu geben. Vielleicht war das albern. Ganz sicher sogar. Aber ich würde es immer wieder tun. Und ich werde es auch weiterhin tun, Nita. Keine Angst. Ich werde nicht vor deiner Tür lauern, im Laden auftauchen oder dich nachts per Telefon aus dem Bett klingeln. Aber ich werde dir schreiben. Und ich hoffe, dass du lesen wirst, was ich dir schreibe. Im Moment ist allein das Wissen, dass ich dir diese Gedanken mitteilen kann, eine Hilfe für mich.
Meine Schwester Marie würde mir die Leviten lesen, wenn sie wüsste, dass ich auf diese Weise
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