DAS GLÜCK IM AUGENWINKEL 3: Edition Nancy Salchow (German Edition)
nur von ihrem eigenen Spiegelbild kannte. Angst. Mühsames Verdrängen. Kraftlosigkeit im ständigen Versuch, den Alltag zu meistern, der in rücksichtloser Konsequenz permanente Beherrschung erwartet. Beherrschung, die selbst nach über einem Jahr so vieles abverlangt. Der Gedanke, dass sie mit einem Mann am Tisch saß, den sie nicht kannte und der doch durch dieses schreckliche Drama in gewisser Weise mit ihr verbunden war, übte einen seltsamen Druck auf sie aus. Ein Druck, dem sie sich nicht widersetzen konnte.
"Ich habe bis heute keinen einzigen Zeitungsartikel über den Amoklauf gelesen", sagte sie unvermittelt.
Fast schien es, als zuckte er zusammen. Der plötzliche Themenwechsel schien ihn zu überraschen.
"Ich habe einiges mitbekommen", sagte er nach einer Weile. "Aber im Endeffekt sicher auch nur den Bruchteil der Berichterstattung."
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, als bräuchte er einen größeren Abstand, um sie besser mustern zu können. Suchend erwiderte er ihren Blick.
"Wie haben Sie davon erfahren?", fragte er schließlich.
Sie wich dem Augenkontakt aus, während sie ihre Tasse umklammerte. Auch wenn sie selbst das Thema direkt angesprochen hatte, so fühlte sie sich den Erinnerungen nun doch schutzlos ausgeliefert. Warum hatte sie der Einladung zugestimmt? Warum hatte sie der Wunsch, mehr über das Drama zu erfahren und Aspekte aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, dazu gebracht, sich erneut mit den schmerzhaften Bildern auseinanderzusetzen?
"Ein Anruf", antwortete sie. "Kurz nach dem Drama. Ich war noch im Laden."
"Bei mir war es das Türklingeln", sagte er leise. "Zwei Beamte. Ich hatte gerade an einem Manuskript gearbeitet."
"Man hat mir gesagt, dass es ein Bankangestellter war."
"Ja." Er nickte. "Ein Angestellter der Bank, vor der es passiert ist."
Sie führte die Tasse zum Mund, setzte sie jedoch einen Moment später wieder ab, ohne einen Schluck zu nehmen. Wieder waren die Bilder da. Der blutige Asphalt. Der Regen. Das Wimmern und Raunen der Leute, die sich selbst Stunden später noch am Tatort aufhielten, sich weinend in den Armen lagen. Nita hatte niemandem in den Armen gelegen, mit keinem der Angehörigen gesprochen. Nicht mal zum Weinen war sie fähig gewesen, selbst als sie das Krankenhaus betreten hatte. Noch Stunden nach seinem Tod hatte sie an seinem Bett gesessen und seine Hand gehalten.
"Niemand weiß, warum er es getan hat", sagte sie. "Alle mochten ihn, hieß es später nur überall."
"Alle mochten ihn", wiederholte er. "Sagen das die Leute nach so einer Tat nicht immer?"
Der Kellner brachte den Milchkaffee und einen kleinen Teller mit Konfitüre und Croissant an den Tisch. Simon nickte ihm zu.
"Patrick hatte gerade Geld von unserem Konto abgehoben", sagte sie. "Wir wollten am nächsten Tag verreisen. Erst am Abend zuvor hatte er sich noch darüber aufgeregt, dass ich nie genügend Bargeld dabeihabe."
Schweigend schaute er sie an. Es war egal, was oder ob er etwas sagte. Sie wusste, was er fühlte, ohne dass er es aussprach. Sie beide hatten jemanden verloren. Am selben Tag. Auf dieselbe Weise.
Er schob den Teller zur Seite. Der Gedanke, jetzt etwas zu essen, schien ihn plötzlich abzustoßen.
"Ich weiß nicht, ob es schlimmer ist, nicht zu wissen, warum sich Emma zu dem Zeitpunkt vor der Bank befand." Er faltete die Hände auf dem Tisch und senkte seinen Blick. "Oder ob es erträglicher wäre, wenn ich es wüsste."
Für einen Moment verspürte sie den Drang, ihre Hand auf seine zu legen. Ihm Trost zu spenden und damit auch selbst Trost zu erhalten. Er ist ein Fremder, sagte sie sich selbst jedoch einen Atemzug später. Ein vollkommen Fremder .
Sie legte die Hände in den Schoß. "Ich habe irgendwann aufgehört, mir Fragen zu stellen. Zu überlegen, was geschehen wäre, wenn ich nur ein einziges Mal selbst zur Bank gegangen wäre. Wenn ich -" Ihre Stimme versagte.
"Vermutlich hat es keinen Sinn, Fragen zu stellen, auf die wir doch keine Antwort bekommen", sagte er.
Sie nickte wortlos. Ihre Blicke trafen sich erneut. Ein Schauer überkam sie. In all den Monaten hatte sie nie den Kontakt zu anderen Angehörigen gesucht, jede Interviewanfrage abgelehnt und auch sonst alle Situationen gemieden, die es erschwerten, die schmerzhaften Erinnerungen zu verdrängen. Warum hatte sie sich jetzt darauf eingelassen? Nach all den Monaten? Irgendetwas an ihm weckte ihr Vertrauen. Ein Vertrauen, das dennoch eine gewisse Nervosität zuließ.
"Wohnen Sie noch
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