Das Glück in glücksfernen Zeiten
Es erstaunt mich, daß die Leute dem Trompeter trotz seines dürftigen Auftritts reichlich Geld spenden. Ich erliege immer wieder meinem dann doch stumm bleibenden Drang, die Menschen über die allgemeine Ödnis des Wirklichen aufklären zu wollen. Dann merke ich rasch, die anderen wissen längst, wie kläglich alles Geschehende ist. Danach beschäftigt mich das Problem, ob die anderen ihre intimen Kenntnisse absichtlich geheimhalten oder aus anderen Gründen nicht über sie sprechen wollen. Ganz zum Schluß taucht die Frage auf, wie es möglich ist, daß wir alle mit der öffentlichen Armseligkeit so gut zurechtkommen. Sogar ich, der ich den Trompeter voll innerer Ablehnung beobachte, werfe dem Mann ein 50-Cent-Stück in den Becher. Er bedankt sich und verbeugt sich kurz vor mir. Wenig später drängt mir die Eigenart des Lebens eine innere Stummheit auf. Ich höre jetzt nur noch das Wehklagen meiner ratlosen Seele. Sie möchte gern etwas erleben, was ihrer Zartheit entspricht, und nichtimmerzu dem Zwangsabonnement der Wirklichkeit ausgeliefert sein. Ich beschwichtige meine Seele und schaue mich nach geeigneten Ersatzerlebnissen um. Aber die Wirklichkeit ist knauserig und weist das Begehren meiner Seele ab. Der Trompeter wendet sich seiner Plastiktüte zu, verstaut seine Trompete und geht zu einem kleinen Kiosk in der Nähe. Dort kippt er den Inhalt des Pappbechers in seine linke Hand und kauft sich eine kleine Flasche Cognac. Über dieses Ergebnis des Bettelns bäumt sich meine Seele mächtig, aber ergebnislos auf. Eine Minute lang ist sie völlig überfordert. Durch Zufall blicke ich auf den Betonboden hinunter und sehe dort ein paar Ameisen mit Flügeln umhergehen. Trotz der Flügel können die Ameisen nicht abheben. Vermutlich sind die Flügel zu lang und zu schwer für die winzigen Körper der Ameisen. Mit diesem Anblick gelingt mir die Tröstung meiner Seele. Schau dir diese kleinen Wesen an, sage ich zu ihr, sie spielen nicht Trompete, sie betteln nicht, sie trinken nicht einmal Cognac am Kiosk. Sie schleppen ihre unnützen Flügel durch die Gegend und klagen nicht!
Ich werde zahlen und nach Hause gehen. Ohnehin ertrage ich kaum, daß so viele Menschen an mir vorbeilaufen oder weggehen oder Platz nehmen. Die Bedienung schiebt einen nassen Kassenbon unter meine Tasse. Ich hebe die Tasse, dabei bleibt der Kassenbon am Boden der Tasse hängen. Da sehe ich eine arme verrückte Frau auftauchen, die ich in dieser Gegend schon öfter gesehen habe. Zuerst geht sie eine Weile auf und ab. Ihre Kleidung ist schadhaft, ihr Haar strähnig, wahrscheinlich übernachtet sie im Freien. Schon ihrem starren Gang ist anzusehen, daß sie eine schwere Störung hat. Ich betrachte sie gerne, sie ist mir nah, während sie ihre Exerzitien absolviert. Denn nach dem sechsten oder siebten Hin- und Herlaufen dreht sich die Frau plötzlich nach hinten, droht mit erhobener Faust in die Gegend undstößt Beschimpfungen aus. Es ist ein schweres, druckvolles Sprechen, das kein Sprechen mehr sein kann, sondern ein schreiendes Ausstoßen von Lauten. Vor ein paar Monaten konnte die Frau noch verstehbare Wörter schreien. Ich erinnere mich, daß sie einmal allen Kinderärzten drohte, man werde sie bald mit Kettensägen zerstückeln, einzeln und nacheinander, alle Kinderärzte der Stadt. Der Wahnsinn einer einzelnen Person hat etwas Belebendes und Wunderbares. Viele Café-Besucher betrachten die Geistesgestörte aus der Tiefe ihres Mangels. Die Verrücktheit der Frau stößt in die Halbtoten hinein und vertreibt ihre Bedürftigkeit. Auch mich selbst verwandelt die Verstörte. Ich hätte nicht für möglich gehalten, daß das Gefühl meiner Erschöpfung so schnell verschwindet. Ich zahle meinen Cappuccino, ziehe meine Plastiktüten unter dem Tisch hervor und verschwinde. Von hier bis zu unserer Wohnung werde ich etwa zwanzig Gehminuten brauchen. Eine Gruppe grölender Männer mit Bierflaschen in der Hand zieht vorüber. Ein Kinderhandschuh steckt auf dem Pfosten eines Gartenzauns und rührt niemanden. Der Wind beugt die Astspitzen der Bäume gegen die Hauswände, so daß ein leichtes Rascheln entsteht. Der Staub liegt nicht nur herum, sondern riecht auch noch ältlich und muffig. Auf dem Dach eines geparkten Autos entdecke ich ein angebissenes Stück Kuchen. Es steht dort in einer geöffneten Stanniol-Verpackung, die in der Abendsonne mild glitzert. Ich glaube nicht, daß das Kuchenstück dem Besitzer des abgestellten Wagens gehört. Dieser hätte
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