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Das Glück in glücksfernen Zeiten

Titel: Das Glück in glücksfernen Zeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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in dieser Frage der Kern meines Unglücks. Ich gehe mit schnellen Schritten und ohne weitere Umwege in Richtung unserer Wohnung. Ich bin 41 Jahre alt, ich heiße Gerhard Warlich und bin von Beruf Organisationsleiter einer Großwäscherei. Es ist dort meine Aufgabe, das Arbeitsvolumen, die Waschanlagen und die Arbeitszeit der Angestellten einerseits und unseren Fuhrpark und die Dienstzeiten der Wäsche-Ausfahrer andererseits so miteinander zu koordinieren, daß eine effiziente Nutzung unserer Kapazitäten stattfindet und deshalb die größtmögliche Zufriedenheit unserer Kunden erreicht beziehungsweise gehalten werden kann. Wir arbeiten für Hotels, Restaurants, Krankenhäuser, Arztpraxen und öffentliche Einrichtungen mit starkem Schmutzwäscheanfall. Vor genau vierzehn Jahren, als ich 27 war, habe ich in diesem Unternehmen als Wäsche-Ausfahrer angefangen. Ich hatte gerade mein Philosophiestudium beendet, fand weder innerhalb noch außerhalb der Universität eine Stellung, die meinem Bildungsgrad entsprach, mußte aber Geld verdienen, und zwar schnell, weil ich mich verpflichtet hatte, das über die Dauer von acht Jahren erhaltene Bafög nach Beendigung des Studiums zurückzuzahlen. In dieser Situation war es mir ziemlich gleichgültig, welche Art von Arbeit ich finden würde. Mit einem gewissen Galgenhumor wurde ich Ausfahrer bei der Wäscherei, deren Chef ich heute bin. Der Mann, der mich damals einstellte, war der Inhaber der Wäscherei, der noch nie etwas von der Krise der Universität und vom Niedergang des Aufstiegsversprechens durch Bildung gehört hatte. Sie sind doch Doktor, rief er aus und wollte mich eine Weile nichteinstellen, weil er mich für hoffnungslos überqualifiziert hielt. Natürlich bin ich überqualifiziert, sagte ich, deswegen bin ich aber doch nicht unfähig. Das leuchtete dem Mann, der stets aufsteigender Unternehmer gewesen war und weiter ist, schließlich ein. Er sagte: Ich will einen Versuch mit Ihnen machen. Er sollte es nicht bereuen. Ich war nicht nur ein ausgezeichneter Ausfahrer. Bald machte ich, was den Einsatz der Ausfahrer betraf, ein paar wirksame Rationalisierungsvorschläge, so daß der Wäscherei-Besitzer mit Erstaunen feststellte, daß ein Mann, der über Heidegger promoviert hatte, sogar seinem Unternehmen hilfreich war. Schon nach einem Jahr wurde ich deswegen zuerst Chef der Ausfahrer-Planung (im Geschäft kurz »Dispo« genannt), und dann Chef der ganzen Wäscherei und des Zuliefererbetriebs, was ich noch heute bin.
    Traudel und ich bewohnen eine Dreieinhalb-Zimmer-Wohnung in einem ruhigen Mietshaus, in dem sieben Mietparteien untergebracht sind. Kaum bin ich im Treppenhaus, rieche ich wieder die stark stinkenden Turnschuhe der Mieter im obersten Stockwerk. Es sind vier junge Leute, vermutlich Studenten, die ihre billigen Turnschuhe am beginnenden Abend ins Treppenhaus stellen und wahrscheinlich nicht einmal wissen, daß das stundenlang getragene Gummi in Verbindung mit dem Fußschweiß einen schwer erträglichen Geruch erzeugt, der bis ins Erdgeschoß hinunterreicht. Nur meine Furcht, daß ich als Hausmeister gelten könnte, hält mich davon ab, die Mieter des obersten Stockwerks um eine Änderung ihrer Gewohnheiten zu bitten. Kurz vor 17.00 Uhr treffe ich in der Wohnung ein, in der wir seit ungefähr zehn Jahren leben. Traudel hat schon vorher mit einem anderen Mann, einem Bankangestellten, hier gewohnt. Auch Traudel war damals Bankangestellte, was sie noch heute ist. Als ich sie kennenlernte, hatte sie gerade ihreLehre beendet und arbeitete in einer kleinen Filiale in der Innenstadt. Nach einigen Jahren machte ihr die Bank ein Angebot: Sie könne, allerdings in der Provinz, Filialleiterin werden. Nach kurzer Überlegung nahm sie das Angebot an. Deswegen fährt sie jeden Tag etwa achtzig Kilometer in ein Nest namens Hingen und abends wieder zurück. Weil ich in der Innenstadt arbeite, sind wir übereingekommen, daß sie das Auto nimmt, während ich als Fußgänger meine Arbeitsstelle erreiche. Am Anfang hat mir das nicht gepaßt, inzwischen kann ich mir nichts anderes mehr vorstellen. Das Gehen entspannt mich, ja es erfüllt mich mit Ruhe und Frieden.
    Die Wohnung empfängt mich wie eine seit langer Zeit eingerichtete Oase der Beschwichtigung. Ich schalte das Radio ein, welches um diese Zeit ein Konzert mit klassischer Musik sendet. Ich ziehe mein Hemd und meine Hose aus, lege mich auf das Sofa und decke mich mit einer Kaschmir-Decke zu, die mir Traudel einmal zu

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