Das Glück in glücksfernen Zeiten
Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" für Gerd Sonntag mit der ID 1310191 generiert. ©2012
EINS
Das einzige Straßencafé, das es in der Nähe unserer Wohnung gibt, ist wie üblich überfüllt. Nur mit Mühe finde ich einen freien Tisch. Die Sonne scheint schwach, es ist Spätnachmittag. Ich habe neun Stunden Arbeit hinter mir und empfinde das Café als die erste Wohltat des Tages. Auch die meisten Menschen um mich herum sind erkennbar erschöpft. Ausgepumpte, fast reglos in ihren Stühlen liegende Menschen empfinde ich als besonders schön. Sie wirken, mild von der Sonne beschienen, wie die endlich zur Betrachtung freigegebenen feierabendlichen Goldränder unserer Leistungsgesellschaft. Nur ein ganz junges Paar links von mir ist hellwach; die beiden saugen mit Trinkröhrchen ein dunkelgrünes Getränk aus hohen Gläsern. Ich bin eher stumm und suche in meinem Inneren nach Worten. Trotz ihrer Müdigkeit reden die Menschen miteinander. Es quält mich mein unangebrachtes Mitleid. Zum Beispiel bedaure ich die jungen Bedienungen. Auf dem Rücken ihrer uniformartigen Kluft ist zu lesen, was man bei ihnen bestellen kann: Latte macchiato, Café con leche, Tonic, Bitter Lemon, Espresso lungo und so weiter. Ich bestelle einen Cappuccino. Eine Weile betrachte ich zwei Enten, die langsam über den Platz watscheln. Zwischen den Betonplatten finden sie kurze helle Gräser, die sie mit großer Geschwindigkeit wegschnäbeln. Ein halbes Dutzend Rußlanddeutsche zieht an einem Automaten Snickers und Smarties heraus. Jedesmal, wenn ein Päckchen in das Entnahmefach fällt, lachen dieRußlanddeutschen laut auf und sprechen ihr russisch-deutsches Gemisch. Ich empfinde Scham über die Konsum-Parolen auf meinen beiden Plastiktüten. Das junge Paar links von mir saugt jetzt so heftig an seinen Trinkröhrchen, daß ich überlege, zu den beiden zu sagen: Ich gebe Ihnen fünf Euro, wenn Sie mit Ihrem Geröchel sofort aufhören. Das Unangenehmste an meiner Ermüdung ist die Überempfindlichkeit. Ich bin noch nicht verrückt genug, dem jungen Paar das Angebot tatsächlich zu unterbreiten. Im Gegenteil, die Empfindung der öffentlichen Peinlichkeit macht mich noch schamhafter. Ich schiebe meine beiden Plastiktüten so unter den Café-Tisch, daß niemand mehr ihre Aufdrucke lesen kann. Leider bin ich voller Mißtrauen in unsere Zustände. Dem jungen Paar möchte ich meine Erschöpfung zeigen, damit die beiden jetzt schon ein Gefühl davon haben, wie auch ihre Zukunft ausschauen wird. Wenn dieses Gefühl ein allgemeines werden könnte, würden wir in einer angenehmeren Welt leben. An einem Tisch rechts von mir höre ich jemanden einen Satz sagen, den ich selbst gerne gesagt hätte: Ich bin mal wieder der einzige, der auf mich Rücksicht nimmt. Eine junge Bedienung stellt einen Cappuccino vor mir ab und wendet mir dann ihren Textrücken zu. Gegen meinen Willen beschleicht mich das vertrauteste Unbehagen: Daß mein Leben nicht so bleiben kann, wie es ist. Groteskerweise bin ich im großen und ganzen mit unseren Verhältnissen zufrieden, das heißt mit unserer Wohnung, mit meinem Einkommen, mit meinen quasi ehelichen Verhältnissen, das heißt mit meiner Lebensgefährtin Traudel. Dennoch habe ich den Eindruck, daß die ganze Zeit eine unhaltbare Sache abläuft: mein Leben. In den letzten beiden Monaten ist der innere Drang, mein Leben in neue Bahnen zu lenken, deutlich stärker geworden. Von dem Wunsch nach Veränderung geht ein Druck aus, dem ich fast wehrlos ausgesetzt bin, weil ich nicht die geringste Ahnunghabe, wie und womit ich irgendwelche Veränderungen herbeiführen könnte. Das ist nicht die ganze Wahrheit. Dann und wann zeigt sich ein winziger Hoffnungsschimmer, der eine Art Glanz in mir zurückläßt. Traudel polemisiert stark gegen meine Veränderungswünsche. Sie sagt mir immer wieder, daß ich allen Grund habe, mit der Welt und mir zufrieden zu sein. Es ist ein Frevel, sagt sie, daß ein gutsituierter Mensch wie du mit solchen Gespenstereien im Kopf herumläuft. In der Regel pflichte ich ihr bei und halte für eine Weile den Mund. Ein Trompeter kommt, hängt seine Plastiktüte an einen Pfosten, tritt vor die Leute hin und spielt. Mich frappiert, wie schnell der Trompeter eingesteht, daß er erstens die Trompete kaum beherrscht und zweitens gar nicht Trompete spielen will, sondern lieber betteln möchte. Er bläst nur ein paar Takte, dann geht er von Tisch zu Tisch und hält den Café-Gästen einen Pappbecher hin.
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