Das Glück in glücksfernen Zeiten
schwirren von rechts drei junge Frauen herbei. Sie gehen nebeneinander und sind eingehenkelt, sie kichern und riechen abwechselnd an einer Fliederdolde, die eine der Frauen in der Hand hält. Die Frauen tragen kurzärmlige, luftige Blusen mit tiefen Ausschnitten, außerdem blaue Fabrikschürzen mit Latz. Vermutlich sind es Schichtarbeiterinnen, die hier eine Pause mit einem Spaziergang füllen. Es macht ihnen nichts aus, daß sie auch außerhalb der Fabrik als Arbeiterinnen erkennbar sind. Die wippende Fliederdolde wandert von Hand zu Hand und verleiht den Frauen eine schöne Anmut. Vermutlich aus Dankbarkeit folge ich den Frauen ein bißchen, weil sie mir helfen, mein Erlebnis in der Peep-Show innerlich aufzulösen. Die Frauen betreten das einzige Kaufhaus des Ortes und bleiben vor einer Theke der Abteilung Brautmoden stehen. Offenbar will eine der Frauen demnächst heiraten und braucht Hochzeitskleidung. Die Arbeiterinnen lachen und errötenund legen die Fliederdolde vorübergehend auf der Theke ab. Ich stehe ein wenig abseits und falle wahrscheinlich nicht auf. Eine Verkäuferin legt Brauthandschuhe vor, ellenlange, weiße, seidene, wundervoll schimmernde Handschuhe. Die heiratswillige Arbeiterin stürzt sich auf die Handschuhe und probiert sie nacheinander an. Die Handschuhe reichen ihr bis unter die Achselhöhle, aber dann zeigt sich ein Problem. Die Brauthandschuhe halten nicht. Die Arme der Arbeiterin sind zu dünn, immer wieder rutschen die Handschuhe herunter und sehen dann zusammengeschoben und ein bißchen häßlich aus. Die Arbeiterin verlangt nach weiteren Handschuhen, aber alle sind so geschnitten, daß sie oben, am Ende der Oberarme, deutlich weiter werden, und für diesen Zuschnitt sind die Arme der Braut zu mager. Die Verkäuferin sagt zu einer Kollegin: Für die Spuchtelarme der Kleinen ist alles zu groß. Die Arbeiterinnen haben das Wort zum Glück nicht gehört. Die beiden Verkäuferinnen lachen verhalten. Ich weiß nicht, was Spuchtelarme sind, aber es muß etwas Abschätziges sein. Die Kollegin bringt kurzärmelige Brauthandschuhe, aber die Braut will keine kurzärmeligen Handschuhe anprobieren. Sie will wenigstens bei ihrer Hochzeit ihre Magerkeit verbergen. Die kleine Frau mit den dünnen Armen schiebt jetzt alle Handschuhe zurück, bedankt sich und wendet sich ab. Wenig später haken sich die Frauen unter und verlassen das Kaufhaus. Sie vergessen die Fliederdolde, sie bleibt auf der Theke zurück. Ich folge den Frauen, schaue ihnen draußen eine Weile nach, dann setze ich mich auf einen Brunnenrand. Von hier aus sehe ich in eine Hofeinfahrt, die ich von früheren Blicken schon kenne. Links und rechts an den Hauswänden der Einfahrt stehen schwere Arbeitsschuhe mit Lehmklumpen an den Sohlen. Hinten ist eine graue Mauer sichtbar, davor eine Wäscheleine, an der dunkle Männerhemden hängen. Von meinen früherenEinblicken weiß ich, daß bald ein Huhn erscheinen und an der hinteren Mauer entlanggehen wird. Das Huhn lebt als einziges Huhn in diesem Hof und hat offenbar kein Bedürfnis, durch die stets offene Hofeinfahrt zu entkommen. Ich überlege, von welchem meiner Erlebnisse ich später Dr. Treukirch berichten werde. Von der Enttäuschung mit Dr. Adrian? Von den Spuchtelarmen der kleinen Frau? Vom Warten auf das Huhn? Nach zehn Minuten stehe ich auf und gehe in Richtung Klinik. Eine Art Glück durchzittert mich. Offenbar kann ich, trotz allem, immer noch wählen, wie ich in Zukunft leben will.
Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012
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