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Das Glück in glücksfernen Zeiten

Titel: Das Glück in glücksfernen Zeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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den Kuchen ungestört im Auto sitzend verspeisen können. Sondern ich nehme an, daß ein Unbekannter den Kuchen während des Gehens aß und dabei plötzlich gestört wurde. Es muß eine erhebliche Störung gewesen sein, die den Esser zwang, den Kuchen auf dem erstbesten Autodach abzustellen und zu verschwinden. Deswegen denke ich, der Kuchenesser wird zu seinemKuchen zurückkehren. Er hat sich irgendwo versteckt und wartet auf eine günstige Gelegenheit der Rückkehr. Er kann es sich nicht erlauben, ein schönes halbes Stück Kuchen einfach so auf einem Autodach hinzuopfern. Jetzt nehme ich an, daß der Mann den Kuchen wahrscheinlich gestohlen hat, dann aber verfolgt wurde und während des gemütlichen Kuchenessens beinahe gestellt worden wäre. Ich setze mich auf eine halbhohe Mülltonnen-Einfassung, verberge mich hinter einem geparkten Lieferwagen und warte auf die Rückkehr des Kuchenessers. Ich muß dazu sagen, daß ich keinerlei Erfahrung mit mystischen Ereignissen habe. Ich habe im Laufe meines Beobachterlebens nur festgestellt, daß es quasi halbaußerirdische Vorgänge gibt, die mich gleichzeitig faszinieren, trösten und beruhigen. Ich muß nicht lange warten, dann löst sich meine spekulative Hoffnung ein. Es kommt ein hitziger junger Mann den gegenüberliegenden Gehweg entlang, greift nach dem Kuchen auf dem Autodach und fängt an zu essen. Es macht dem Mann offenbar Freude, den Kuchen genau dort zu verzehren, wo er vermutlich als Dieb fast gestellt worden wäre. Von der Macht seines Bisses geht die Überzeugung aus, daß er dieses Stück Kuchen stets als sein Eigentum betrachtet hatte, insbesondere in den Augenblicken der Verfolgung und Anfechtung. Von meinen Beobachtungen geht das von mir erwartete Glück aus. Ich könnte sogar zu dem Mann hinübergehen und ihm sagen: Ihr Stück Kuchen und mein Glück gehören zusammen. Das würde der Mann nicht verstehen, im Gegenteil, er würde sich vielleicht erneut verfolgt fühlen. Mir entgeht nicht, daß ich selbst von einer Obstverkäuferin beobachtet werde, was mein Glück verkompliziert, aber auch steigert. Die Obstverkäuferin hantiert in meinem Rücken in einem halb heruntergekommenen Laden und erkennt vermutlich nicht, daß ich lediglich den Kuchenesser schräg gegenüber beobachte. Ich fühle, sieglaubt, daß ich selbst einen Diebstahl oder eine andere kleine Gaunerei plane. Die Koinzidenz der Ereignisse erregt mich auf gewisse Weise. Ich beobachte einen Kuchendieb und werde selbst des geplanten Obstdiebstahls beargwöhnt, das heißt ich kann mich in diesen Sekunden als Erfinder einer Blickkette fühlen, die unbekannte Ereignisse miteinander verbindet und mich selber auf unaussprechliche Weise auszeichnet beziehungsweise erhöht beziehungsweise in eine andere Wirklichkeit hineinhebt. Eine Minute lang lebe ich in einer Hochstimmung, die sich meinen Worten entzieht. Es ist schade, daß Traudel jetzt nicht bei mir ist. Dann könnte ich sie, indem ich ihr die Bilder zeige, teilhaben lassen an dieser anderen Wirklichkeit und könnte ihr auf diese Weise die Idee einflößen, daß es bereichernd ist, mich zu kennen. Nachher, wenn ich ihr von meiner Hochstimmung bloß erzähle, sind die Bilder bereits verblaßt und haben ihren Glanz eingebüßt. Einer von Traudels Lieblingssätzen lautet: Ich will nicht zu zweit allein sein. Sie drückt damit ihren Anspruch aus, daß sie wenigstens einmal in der Woche von mir belebt werde. Ich schweige meistens, wenn dieser Satz gefallen ist, was Traudel dann und wann als Schuldeingeständnis auslegt. Auch dazu schweige ich, weil ich nicht darüber reden kann, daß jeder Mensch auf innerliche Weise allein ist und daß dieses Alleinsein nicht einmal schlimm ist. Eigentlich ist das eine Platitüde, nicht jedoch für Traudel. Ich weiß, es gibt sehr viele Menschen, die ihr inneres Alleinsein vehement leugnen, Traudel gehört zu ihnen.
    Der Kuchenesser beendet seine Straßenmahlzeit, ich verlasse meinen Platz hinter dem Lieferwagen, die Obstverkäuferin verschwindet in ihrem Laden. Ich rutsche in die Wirklichkeit zurück, das heißt ich zerbreche mir den Kopf darüber, auf welche Tätigkeit die Entdeckung der Blickkette verweist. Bin ich ein Philosoph, ein Ästhet, ein stiller Kommunikator,ein Konzeptkünstler? Und wie kann es mir gelingen, aus einer dieser Tätigkeiten einen Beruf zu machen, der mich hinreichend ernährt und mir endlich die Gewißheit verschafft, daß ich mich in einem sinnvollen Leben befinde? In gewisser Weise steckt

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