Das Glücksbüro
Gebäudes, stand Albert fast jede Nacht und blickte durch die Fensterscheiben hinab auf die Stadt, die dort funkelnd und friedlich zu seinen Füßen lag. Wie ruhig es hier war. Kein Laut drang von draußen hinauf zu ihm. Von hier wirkte alles so beschaulich, so idyllisch, aber er wusste, dass dem nicht so war: Dort draußen tobte ein Krieg!
Jeder war der Feind des anderen. Die Zeitungen und Nachrichten waren voll davon: Mord, Vergewaltigung, Körperverletzung, Betrug, Diebstahl, Egoismus, Habgier, Niedertracht und Verrat. Das ganze Kaleidoskop menschlicher Verfehlungen. Einfach grauenhaft. Wohin man auch sah: nur Ungerechtigkeit und Gemeinheiten. Der Himmel war für alle da, doch darunter hatten sich die Menschen in ihren Wohnungen und Häusern verschanzt und führten einen grausamen Krieg gegen jeden, der sich ihnen in den Weg stellte. Sie grüßten sich, lächelten einander zu, aber sie meinten es nicht so. Wie konnte man wissen, wann ein Lächeln echt war und wann nicht? Wann jemand aufrichtig war und wann nicht? Wie konnte man überhaupt so leben?
Glücklich war der, für den sich niemand interessierte. Der den Wünschen und dem Willen der anderen nicht im Weg stand. Denn nur so wurde man ignoriert und hatte eine Chance auf ein normales Leben. Albert war froh, dass er sein Amt hatte. Dass er nachts hier stehen konnte, um die Stille zu genießen. Die Lichter der Stadt und die romantische Vorstellung, dass alles, aber auch wirklich alles, in Ordnung war.
Später am Abend, Albert hatte sich bereits den Pyjama angezogen, stand er in seinem Zimmer und bügelte noch einmal seinen Anzug und sein Hemd für den morgigen Tag auf, polierte seine Schuhe auf Hochglanz, denn er legte größten Wert auf makellose Kleidung. Anschließend legte er sich ins Bett und nahm sich seine Abendlektüre vor: Apostille – Vorschriften zur Beantragung einer Endbeglaubigung zum Zwecke der Legalisation .
Die Augen fielen ihm zu. Er war müde, rechtschaffen müde, und ja, man konnte sagen: glücklich. Wie jeden Abend löschte er um Punkt 22.00 Uhr das Licht. Morgen war ein neuer Tag, ein weiterer, der mit einem Geburtstag anfing, einem Gläschen Sekt und Mayonnaise.
7.
Punkt fünf Uhr morgens schepperte der Wecker los – ohrenbetäubend laut, aber Albert war das Geräusch gewohnt und weigerte sich standhaft, das völlig veraltete Modell gegen ein moderneres zu tauschen. Es übererfüllte seine Funktion, konnte Tote wecken, was Albert zu schätzen wusste.
Wie jeden Morgen zog er den Pyjama aus, stellte sich nackt vor das Becken und begann, sich mit einem Waschlappen und Seife sorgfältig zu waschen. Alle paar Tage auch die Haare, wobei er dann gleich den Schnitt kontrollierte: Er hatte es zu einer bemerkenswerten Könnerschaft darin gebracht, sie selbst zu frisieren, sodass die meisten in seiner Umgebung glaubten, Albert leistete sich dann und wann einen teuren Coiffeur. Anschließend rasierte er sich, putzte die Zähne, zog sich an und war fast fertig für den Tag. Nur eines fehlte noch: sein Vitamindrink. Dazu löste er aus verschiedenen Röhrchen Brausetabletten in einem großen Glas Wasser auf: Vitamin C, Multivitamin, Calcium und Magnesium und kippte alles in einem Zug herunter. Das schmeckte nicht besonders, aber Albert war überzeugt, dass seine gute Gesundheit auch Ergebnis seiner Vorsorge war.
Kurz bevor er sein Zimmer verließ, riss er noch ein Blatt von seinem Kalender: 14. Februar. Dann kontrollierte er auf einem Klemmbrett einen Stapel Papier, auf den rund dreitausend Namen und Zuständigkeiten gedruckt waren, bis er schließlich auf einen stieß, der genau richtig war: Gerlinde Klostermann, 14. 02. 1956, Abt. III.343 .
Er lächelte und rieb sich die Hände: »Perfekt!«
Keine zehn Minuten später klopfte er an die Tür 343, Gerlinde Klostermann / Herbert Mutzel , und trat ein, nachdem er drinnen ein beschwingtes Herein! , Stimmen und Gekicher gehört hatte.
»Guten Morgen, Frau Klostermann, Albert Glück. Ich habe hier noch eine Frage zum CAF -Netzwerk. Das ist doch Ihre Abteilung?«
Frau Klostermann, eine rundliche Frau mit roten Wangen und altmodischer Dauerwellenfrisur, goss gerade ihrem Kollegen Mutzel ein Gläschen Sekt ein. Drei weitere Kollegen standen um ihren Schreibtisch und hielten ebenfalls Sektgläser in der Hand.
»Herr Glück! Sie kommen genau richtig!«, rief sie erfreut.
Albert schien irritiert: »Ich verstehe nicht?«
»Na, heute ist mein Geburtstag und wer besucht mich? Herr
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