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Das Gluehende Grab

Das Gluehende Grab

Titel: Das Gluehende Grab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurdardottir
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hielt
sich das andere zu. Doch. Sie konnte sogar das Lied erkennen. Ein
alter Schlager von Vilhjálmur Vilhjálmsson über
einen Jungen, der nach seinem Papa ruft. Dís griff nach der
Türklinke und drückte sie nach unten. Es war nicht
abgeschlossen.
    »Alda!«
Keine Antwort – nur Vilhjálmurs melancholische Stimme,
die den Papa anflehte zu warten. Dís stieß die
Tür auf. »Alda! Bist du zu Hause?« Keine Antwort.
Das Lied ging zu Ende und fing ein paar Sekunden später wieder
von vorne an. Kein Radio – eine CD, auf Wiederholung
programmiert. Dís ging langsam zur Treppe, die in den ersten
Stock hinaufführte. Falls Alda krank war, lag sie bestimmt
oben im Schlafzimmer. Dís war nur einmal hier gewesen, als
Alda sie und Ágúst mit ihren jeweiligen Partnern vor
etwa einem Jahr zum Abendessen eingeladen hatte. Dís hatte
sich immer darüber gewundert, dass Alda nach ihrer Scheidung
keine feste Beziehung mehr gehabt hatte. Sie war eine
äußerst attraktive Frau Ende vierzig, die sich gut
gehalten hatte, liebevoll, charmant und selbstbewusst war.
    »Alda?«
    Keine Antwort.
Die Musik wurde mit jedem Schritt lauter.
     
     
    Vilhjálmur
Vilhjálmssons Stimme drang durch die halb offenstehende
Tür. Durch den Türspalt sah Dís einen bestickten
Bettüberwurf. Sie stieß die Tür mit dem Fuß
ganz auf und schlug sich die Hand vor den Mund. Die Musik kam von
einem CD-Player auf dem Nachttisch;daneben lagen eine leere
Whiskyflasche, ein offenes Medikamentenfläschchen und eine
Spritze. Alda lag mitten auf dem Bett. Dís war sofort klar,
dass es für Wiederbelebungsversuche zu spät
war.
     
     
     

4
    DIENSTAG 10. JULI 2007
    Dóra
ließ sich seufzend auf den Stuhl sinken. Sie überlegte,
wen sie bitten könnte, ihre Tochter Sóley abzuholen
– zum zweiten Mal hintereinander. Ihre Mutter kam nicht in
Frage. Die hatte ihr gestern Abend schon aus der Patsche geholfen,
als sie auf den Westmännerinseln festsaß, und
außerdem wollten ihre Eltern ins Theater. Dóra
würde sich noch jahrelang das Gejammer ihrer Mutter
anhören müssen, wenn sie die Aufführung verpasste,
auf die sie sich schon seit Monaten gefreut hatte. Ihr Vater
wäre zwar bestimmt dankbar, vor diesem Theaterabend bewahrt zu
werden, aber Dóra wollte die Pläne ihrer Eltern lieber
nicht durchkreuzen, denn die Enttäuschung ihrer Mutter
währte länger als die Dankbarkeit ihres
Vaters.
    Also beschloss
Dóra, ihren Ex-Mann anzurufen. Hannes würde alles
andere als erfreut sein. Sein Job als Facharzt auf der
Unfallstation war nicht weniger anstrengend als die Juristerei. Die
Kinder waren jedes zweite Wochenende und, wenn er es einrichten
konnte, auch an anderen Tagen bei ihm, aber kurzfristig einspringen
konnte er nur selten. Hannes hatte eine neue Frau und ein neues
Leben, das sich in erster Linie um die beiden drehte, während
sich Dóras Leben am allerwenigsten um sie selbst drehte
– die meiste Zeit ging für den Job, die beiden Kinder
und das Enkelkind drauf, das gerade ein Jahr alt geworden war. Und
dann {34 }gab es ja noch ein viertes Kind: die Schwiegertochter
Sigga, noch keine siebzehn – ein Jahr jünger als
Dóras Sohn Gylfi. Auf wundersame Weise war es den jungen
Eltern gelungen, ihre Beziehung aufrechtzuerhalten, trotz der
Bruchlandung auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Sie wohnten im
Wechsel eine Woche bei Dóra, und in der nächsten Woche
war Sigga mit dem Kleinen bei ihren Eltern – ohne Gylfi. Das
Verhältnis zwischen Siggas Eltern und Gylfi war distanziert;
sie konnten ihm nicht verzeihen, dass er ihre Tochter so früh
geschwängert hatte, das merkte jeder, allen voran Gylfi, daher
war Dóra froh, dass er zu Hause blieb, wenn Sigga bei ihren
Eltern war. Auf diese Weise hatte sie ihren Sohn noch ein bisschen
für sich, auch nachdem er die Menschheit unbeabsichtigt
vermehrt hatte.
    Dóra
klemmte sich den Hörer unters Kinn und rückte das Foto
ihres Enkels zurecht, während sie Hannes’ Nummer
wählte. Der Kleine war nach zahlreichen Vorschlägen der
jungen Eltern, die Dóra immer noch entsetzten, auf den Namen
Orri getauft worden. Er war unwiderstehlich: blond, riesige Augen
und dicke Pausbäckchen, obwohl er schon längst kein
Fläschchen mehr bekam. Dóra wurde ganz warm ums Herz,
als sie das Foto anschaute, und sie freute sich darauf, Orri
nächste Woche bei sich zu haben, auch wenn es dann zu Hause
zweifellos stressiger würde. Sie lächelte dem Kleinen auf
dem Foto zu, als am anderen Ende der Leitung endlich abgenommen
wurde.

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