Die Zuflucht der Drachen - Roman
KAPITEL 1
Das Tagebuch
E nergisch strich Kendra Sørensen an der Reibfläche einer Streichholzschachtel ein Zündholz an. Sie schützte die kleine Flamme mit der hohlen Hand und hielt das brennende Hölzchen an den geschwärzten Docht eines Kerzenstummels, der vor ihr auf ihrem Schreibtisch stand. Sobald die Flamme auf den Docht übergesprungen war, schüttelte Kendra das Zündholz aus. Dünne Rauchschwaden kräuselten sich zur Decke des Zimmers hinauf.
Kendra betrachtete die Überreste des Streichholzes und wunderte sich, wie schnell das Feuer das Holz verzehrt hatte. Ein Drittel des Holzes war nun verkohlt, dünn und spröde, seine Substanz hatte sich verwandelt und kaum noch Ähnlichkeit mit dem vorherigen Zustand. Kendra musste an die Schattenplage in Fabelheim denken und daran, wie sie viele der Bewohner des magischen Reservats ähnlich schnell von Wesen des Lichts in Kreaturen der Dunkelheit verwandelt hatte. Sie, ihre Familie und ihre Freunde hatten es geschafft, der Seuche ein Ende zu machen, bevor sie das Reservat zerstören konnte, aber ihre Bemühungen hatten der Najade Lena das Leben gekostet.
Kendra riss sich aus ihrem Tagtraum und legte das abgebrannte Streichholz beiseite. Sie schob den Schlüssel in das verschlossene Tagebuch, schlug es auf und begann hastig darin zu blättern – dies war ihre letzte Umitenkerze, und sie konnte es sich nicht leisten, auch nur das kleinste Quäntchen von dieser ganz besonderen Lichtquelle zu vergeuden, die allein die Worte auf den Seiten sichtbar machen konnte.
Kendra hatte das Tagebuch der Geheimnisse aus Fabelheim mit nach Hause genommen. Einst hatte es Patton Burgess gehört, einem ehemaligen Verwalter von Fabelheim, dem Kendra unerwarteterweise begegnet war, als er Ende des vergangenen Sommers in der Zeit vorwärtsgereist war. Das Buch war in einer geheimen Feensprache verfasst und zudem mit Umitenwachs geschrieben; nur im Licht einer Umitenkerze wurden die schimmernden Schriftzeichen überhaupt sichtbar, und nur weil sie die Eigenschaften einer Fee besaß, konnte Kendra sie entziffern.
Feensprachen lesen und sprechen zu können war nur eine der Fähigkeiten, die Kendra gewährt worden waren, nachdem hunderte von Feen sie mit Küssen überhäuft hatten. Sie konnte auch in der Dunkelheit sehen, und gewisse übersinnliche Tricks zur Geistestäuschung hatten keine Wirkung auf sie, was es ihr erlaubte, die Illusionen zu durchschauen, die die meisten magischen Geschöpfe vor sterblichen Augen verbargen. Und die Feen mussten jeden Befehl befolgen, den sie ihnen gab.
Kendra blickte über die Schulter und lauschte einen Moment. Im Haus war alles still. Mom und Dad hatten angefangen, an den Wochentagen abends joggen zu gehen, und sie hatten vor, das im neuen Jahr zu einer festen Gewohnheit werden zu lassen. Kendra bezweifelte, dass dieser Vorsatz länger als ein paar Wochen halten würde, aber im Moment verschaffte er ihr zumindest eine Möglichkeit, ungestört in dem Tagebuch zu lesen. Ihre Eltern waren blind für die magische Welt, die Kendra und ihr Bruder entdeckt hatten. Und als sie ihre Tochter einmal dabei ertappt hatten, wie sie bei Kerzenlicht in einem Buch voll seltsamer Symbole las, hatten sie prompt vermutet, Kendra hätte sich auf irgendeinen bizarren Kult eingelassen. Dass dies das geheime Tagebuch eines ehemaligen Verwalters von Fabelheim war, konnte sie ihren Eltern schlecht sagen. Damit sie ihr das Buch nicht wegnahmen, tat Kendra so, als hätte sie es in die Bibliothek zurückgebracht, und las nur noch darin, wenn sie sicher sein konnte, dass niemand sie stören würde.
Der Ton des Buchs war ihr vertraut; Kendra hatte in Fabelheim viele der Einträge in Pattons weniger geheimen Tagebüchern gelesen. Beim Schmökern im Tagebuch der Geheimnisse war Kendra auf Pattons ausführlichen Bericht darüber gestoßen, wie Ephira zu einer geisterhaften Bedrohung geworden war. Er hatte keine Einzelheiten ausgelassen und niemanden geschont. In anderen Passagen hatte er seine tiefsten Ängste wegen seiner Beziehung zu Lena zum Ausdruck gebracht. Kendra hatte außerdem von einem Gang erfahren, der zu einer Grotte unter dem alten Herrenhaus führte, von verschiedenen Schätzen und Waffen, die in Fabelheim versteckt waren, und von einem Teich am Fuß eines kleinen Wasserfalls, wo man Leprechauns fangen konnte. Sie fand Informationen über einen geheimen Raum, der hinter der Halle des Grauens im Kerker von Fabelheim lag, einschließlich der Passwörter und einer
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