Das Gottesmahl
unglückseliges Urteil.
Wenn nämlich nicht der Kapitän die Schuld trug, mußte
jemand anderes schuld sein, jemand namens Karibische Petroleum AG:
die Karpag mit ihren unterbemannten Schiffen,
überarbeiteten Besatzungen, der hartnäckigen Weigerung,
Doppelrumpftanker zu bauen, ihrem unsoliden Lecksicherungsplan (einem
Vorgegaukel, das Richter Lucius Percy ›den beachtlichsten
Beitrag zur maritimen Dichtung seit Mobby Dick‹ nannte).
Als das Rechtssystem Anthony freisprach, werkelten seine Vorgesetzten
schon an ihrer Rache. Sie verhießen ihm, er würde nie mehr
einen Supertanker kommandieren, und förderten das Eintreffen der
Prophezeiung, indem sie die Küstenwache dazu überredeten,
sein Kapitänspatent einzuziehen. Binnen eines Jahrs sank
Anthonys Einkommen vom sechsstelligen Gehalt eines Schiffers auf die
kargen Einkünfte der Randgruppe ab, die im New Yorker Hafen
herumlungert und buchstäblich jede angebotene Arbeit verrichtet.
Er löschte Ladung, bis Schwielen seine Hände bedeckten. Er
vertäute Massengutfrachter und Ro/Ro-Schiffe. Er reparierte
Takelage, verspleißte Belegleinen, strich Poller und reinigte
Ballasttanks.
Und er duschte; duschte Hunderte von Malen. Am Morgen nach dem
Unglück quartierte Anthony sich in Port Lavacas einzigem Holiday
Inn ein und stand fast eine Stunde lang unter heißem Wasser,
aber das Öl verschwand nicht. Im Anschluß ans Mittagessen
versuchte er es noch einmal. Das Öl blieb an ihm haften. Bevor
er ins Bett ging, nahm er noch eine Dusche. Eine unaufhörliche
Ölflut, vierzig Millionen Liter, verstopften als
Petroleum-Moussee seine Arterien, verdickten ihm das Blut.
Während das fürchterliche Jahr 1991 ausklang, duschte
Anthony van Horne an sieben Tagen in der Woche viermal täglich.
Du hast die Brücke verlassen, raunte ihm eine Stimme ins Ohr,
indem Wasser auf seinen Brustkasten prasselte. Du hast die
Brücke verlassen…
… müssen sich ständig zwei Offiziere auf der
Brücke aufhalten.
Du hast die Brücke verlassen…
»Sie haben die Brücke verlassen«, konstatierte der
Engel, wischte sich die Tränen am seidenen Ärmel ab.
»Ja, ich habe die Brücke verlassen«, gestand
Anthony.
»Ich beweine nicht, daß Sie die Brücke verlassen
haben. Strände und Silberreiher sind für mich längst
belanglos geworden.«
»Sie weinen, weil« – Anthony schluckte –
»Gott tot ist.« Die Äußerung fühlte sich
auf Anthonys Zunge äußerst befremdlich an, als wäre
er plötzlich mit der Gabe begnadet worden, Tahitisch zu
sprechen. »Wie kann Gott tot sein? Wie kann Gott einen
Körper haben?«
»Wieso nicht?«
»Ist er nicht… immateriell?«
Rafael seufzte schwer, schwenkte den linken Fittich in die
Richtung des Spätgotik-Saals und hob ab, flog auf die unsichere,
trudelige Weise eines angeknickten Falters. Während Anthony ihm
folgte, merkte er, daß das Geschöpf sich auflöste.
Wie die Überbleibsel einer Kissenschlacht wehten Federn durch
die Luft.
»Im wesentlichen sind Körper immateriell«,
sagte Rafael im Dahingaukeln. »Jeder Physiker wird Ihnen das
gleiche erklären. Eigentlich ist Materie ein reichlich
nichtstoffliches Zeug. Quirlig. Quarkig. Im Grunde genommen ist wenig
vorhanden. Fragen Sie Pater Ockham.«
Sanft sank der Engel inmitten der mittelalterlichen Schätze
abwärts, faßte Anthonys Hand – wieder mit kalten
Fingern, eisig wie ins Weddell-Meer gefallene Leinen – und
führte ihn zu einem Altarbild ungeklärter Herkunft in der
südöstlichen Ecke.
»Die Religion hat in letzter Zeit einen viel zu starken Hang
zum Abstrakten entwickelt«, meinte Rafael. »Gott als
Geistwesen, Lichtgestalt, Liebe… Hören Sie auf mit diesem
platonischen Gequatsche. Gott ist eine leibhaftige Person, Anthony.
Er hat Sie nach seinem Ebenbild geschaffen, siehe Genesis
eins-sechsundzwanzig. Er hat eine Nase, vergleiche Genesis
acht-zwanzig. Ein Gesäß, beachten Sie Exodus
dreiunddreißig-dreiundzwanzig. Manchmal hat er Scheiße an
den Hacken, schlagen Sie im fünften Buch Mose
dreiundzwanzig-vierzehn nach.«
»Sind das nicht bloß…?«
»Was denn?«
»Metaphern?«
»Alles ist ein Gleichnis, Anthony. Inzwischen wachsen seine
Zehennägel, ein bei Leichen unabwendbares Phänomen.«
Rafael zeigte auf das Altarbild, das der Beschilderung zufolge
Christus und die Jungfrau Maria bei der Fürbitte vorm
Himmelsthron darstellte, allerdings unerwähnt ließ, in
wessen Namen die Fürsprache stattfand. »Die Alten Meister
wußten noch, woran sie waren. Michelangelo
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