Das große Buch der Lebenskunst
Tages notiert er für sich: »Einfachheit heißt sehen, urteilen und handeln von dem Punkt her, in dem wir in
uns selber ruhen. Wie vieles fällt da weg! Und wie fällt alles andere in die rechte Lage.« Voraussetzung für die Einfachheit ist also das Ruhen in sich
selbst. Wenn ich in Berührung bin mit meinem wahren Wesen, dann sehe ich auch die Dinge so, wie sie sind. Dann kann ich ihnen in meinem Handeln auch eher
gerecht werden. Wenn ich jedoch mit mir nicht im Einklang bin, dann sind meine Augen getrübt und ich sehe in allem meine eigenen Ängste und
Bedürfnisse.
So soll es sein
J esus hat in einem Gleichnis davor gewarnt, uns mit unserer Spiritualität über andere zu erheben oder uns
interessant zu machen. Auch für ihn besteht die wahre Spiritualität darin, einfach zu tun, was ich schuldig bin. Im Gleichnis vom unnützen Sklaven erzählt
er, dass der Herr sich beim Sklaven nicht bedankt für das, was sowieso seine Pflicht ist. »So soll es auch bei euch sein: Wenn ihr alles getan habt, was
euch befohlen wurde, sollt ihr sagen: Wir sind unnütze Sklaven; wir haben nur unsere Schuldigkeit getan.« (Lk 17,10) Spiritualität heißt also: einfach
tun, was ich mir schuldig bin, was ich dem Augenblick schuldig bin, was ich dem Nächsten schulde und was ich Gott schulde. Einfach tun, was zu tun
ist. Das entspricht der chinesischen Weisheit, die sagt: Tao ist das Gewöhnliche. Es ist der Weg, der zu gehen ist. Spirituell ist der Mensch, der jeden
Tag seinen Weg geht, der das Gewöhnliche tut, der tut, was jetzt im Augenblick gefordert ist.
Das Entscheidende
L eo Tolstoi hat Jesus sehr gut verstanden, auch wenn er als Dichter eine andere Sprache spricht als die
der Theologie. Aber er ist überzeugt, dass die wahre Spiritualität darin besteht, einfach dort gegenwärtig zu sein, wo ich gerade bin. Ihm wird der Satz
zugeschrieben: »Die wichtigste Stunde ist immer die Gegenwart, der bedeutendste Mensch ist immer der, der dir gerade gegenübersteht, und das notwendige
Wohl ist immer die Liebe.« Ich soll mir kein kompliziertes spirituelles Gebäude errichten. Entscheidend ist, dass ich jetzt in diesem Augenblick ganz
gegenwärtig bin und spüre, was dieser Augenblick von mir erwartet. Es kommt darauf an, sich auf diesen Augenblick, auf diesen konkreten Menschen vor mir
einzulassen. Und entscheidend ist dabei immer die Haltung der Liebe.
Unkompliziert
W ir meinen oft, »einfach« sei gleichzusetzen mit »primitiv«. Das wahre Leben sei aber kompliziert und nur
in schwierigen Gedankengängen zu erklären. Heimito von Doderer hat das Gegenteil als richtig erkannt: »Ganze Sachen sind immer einfach, wie die Wahrheit
selbst. Nur die halben Sachen sind kompliziert.« Die Wahrheit ist immer einfach und klar. Wahrheit heißt: einfach sehen, was ist. Für die Griechen besteht
die Wahrheit (aletheia) darin, dass der Schleier, der über allem liegt, weggezogen wird und wir auf das Wesen der Dinge schauen. Wir schauen in den
Grund. Dort geht uns die Wahrheit auf. Wer zu kompliziert über die Dinge redet, der hat in aller Regel nicht das Ganze erfasst, der befasst sich eher mit
halben Sachen. Wenn etwas ganz und heil ist, in sich abgerundet und vollständig, dann ist es immer auch einfach. Dann verstehen wir es auch. Wenn etwas in
sich nicht ausgegoren ist, dann passen die Dinge nicht zusammen. Und wir können sie auch mit unserem Verstand nicht zusammenbekommen. Wir erleben sie als
in sich verwickelt und verwirrt. Wir tun uns schwer damit, sie zu entwirren und zu ordnen. Die Dinge einfach zu machen – freilich nicht einfacher, als
sie sind – das ist nach Albert Einstein ein Zeichen der Intelligenz.
Je einfacher die Uhr
S prichwörter drücken Erfahrungen aus, die Menschen über die Jahrhunderte hinweg gemacht haben. Im
Deutschen gibt es das Sprichwort: »Je einfacher die Uhr, je besser geht sie.« Wenn eine Uhr in sich klar und einfach konstruiert ist, dann ist sie auch
zuverlässig. Und wir können ihr trauen. Heute sehnen wir uns manchmal nach der Einfachheit mancher Dinge. Das Autoradio wird immer komplizierter. Ich muss
es erst einmal studieren, bevor ich es benutzen kann. Und dann ist gerade in dem Moment, in dem ich den Verkehrsfunk brauche, irgendetwas verstellt. Je
komplizierter die Technik im Auto wird, desto anfälliger wird sie. Immer neue Modelle von Computern kommen auf den Markt, ohne dass wir in der Lage sind,
die Technik gleich zu verstehen und
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