Das große Buch der Lebenskunst
es je zu erreichen. Der einzige Weg zum Einklang mit mir selbst ist der Verzicht auf all das,
was nicht meinem wahren Wesen entspricht. Ich soll mir keine Sorgen machen um das, was mir nicht entspricht. Es genügt, ganz der zu sein, der ich bin.
Versöhn dich mit dir
D er alltägliche Weg, um mit sich in Einklang zu kommen, ist: sich auszusöhnen mit sich selbst. Dieser Weg
scheint nicht einfach zu sein. Aber wir müssen ihn immer wieder von Neuem gehen. Wir sind nie für immer mit uns versöhnt. Friedrich Nietzsche weiß um die
Herausforderung, sich immer wieder neu mit sich zu versöhnen: »Zehn Mal musst du dich wieder mit dir selber versöhnen; denn Überwindung ist Bitternis, und
schlecht schläft der Unversöhnte.« Ich muss mich immer wieder überwinden, mich mit mir zu versöhnen. Diese Überwindung stößt mir oft bitter auf. Aber es
gibt keinen Weg, der daran vorbeiführt. Denn – so meint Nietzsche – wenn ich mich nicht versöhne, werde ich auch schlecht schlafen. All das Unversöhnte
wird in der Nacht im Traum in mir hochkommen und mir eine unruhige Nacht bescheren.
Eines Tages
W ir alle sehnen uns danach, mit uns in Einklang zu kommen. Doch wir haben so viele Zweifel und
Fragen. Was stimmt für mich? Wann bin ich im Einklang? Was muss ich annehmen und was bekämpfen? Rainer M. Rilke hat in diese innere Spannung zwischen
Sehnsucht und Zweifel sein Gedicht geschrieben:
»Wenn man die Fragen lebt,
lebt man vielleicht allmählich,
ohne es zu merken,
eines fremden Tages
in die Antwort hinein.«
Es geht nicht darum, die Fragen zu beantworten. Oft finden wir keine Antwort. Aber wenn wir die Frage leben, dann finden wir durch das Leben oft die
Antwort. Auf einmal hat das Leben selbst die Antwort gegeben. Im Leben der Fragen formt sich die Antwort.
Einfach
leben
Ruh in dir und
kompliziere nichts
Klar und echt
W ir sagen es einem anderen so leicht: »Lebe einfach!« Schon das Wort »einfach« hat eine vielfache
Bedeutung. Es kann meinen, einfach so dahinzuleben, ohne etwas Besonderes aus dem Leben zu machen oder ohne sich etwas darauf einzubilden. Es ist das
reine Dasein. Ich lebe einfach, ohne mir große Gedanken darüber zu machen, wie ich es verstehen soll. Einfachheit bedeutet in der Tradition auch
Anspruchslosigkeit. Sie geht zusammen mit der zeichenhaften Solidarität mit den Armen. Und Einfachheit kann Echtheit und Authentizität bedeuten. Wenn wir
von einem sagen, dass er einfach lebe, so meinen wir seine Klarheit, seine Eindeutigkeit. Er muss nichts aus sich machen. Er muss sich nicht besonders
darstellen. Er ist einfach da. Er ist einfach. Er ist, wer er ist. Und so lebt er auch.
Innere Freiheit
D ie Sehnsucht nach dem einfachen Leben ist alt. Der stoische Philosoph Poseidonios rühmt die Römer, dass
diese wegen »der Einfachheit ihrer Lebensweise, ihrer Gerechtigkeit und Gottesfürchtigkeit« zur Weltherrschaft berufen seien. Die Einfachheit ihrer
Lebensweise gab ihnen offensichtlich die Kraft, die damalige Welt zu beherrschen und sie zu befrieden. Als die Römer dann wegen ihres zu großen Reichtums
dekadent geworden waren, zerfiel das Reich. Was der stoische Philosoph Poseidonios vor zweitausend Jahren sagte, das betonen heute Soziologen. Sie meinen,
die Eliten seien immer asketische Eliten gewesen. Ein Zeichen der Elite ist, dass sie ein einfaches Leben führt. Sie haben Ziele, die über sie
hinausgehen. Daher brauchen sie die innere Freiheit, die ihnen das einfache Leben schenkt, um sich für ihre Ziele einzusetzen.
In Übereinstimmung
I n der stoischen Philosophie war die Einfachheit ein zentraler Begriff. Vor allem Kaiser Mark Aurel, der
Philosoph auf dem Kaiserthron, liebt diesen Begriff. Er gebraucht das griechische Wort »haplotes«, das auch die Bibel häufig verwendet. Er meint, im
wahrhaft guten Menschen müsse »alles schlicht und voll Wohlwollen« sein. Einmal ruft er sich selbst zu: »Lass keine Unruhe in dir aufkommen, werde
einfach!« Einfach sein heißt für Mark Aurel, ohne Nebenabsichten seine Aufgabe zu erfüllen, sich von den Leidenschaften nicht bestimmen zu lassen und frei
von Illusionen zu sein, die man sich häufig über das Leben macht. Der einfache Mann ist arglos. Er ist frei von Misstrauen gegenüber anderen. Auch der
Philosoph soll keine komplizierten Sätze formulieren. Zeichen eines echten Philosophen ist vielmehr die Einfachheit: »Einfachheit und Bescheidenheit ist
die Aufgabe der Philosophie.«
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