Das große Buch der Lebenskunst
mit leeren Aktivitäten voll stopft. Der eine weicht der Zeit aus, indem er sich dem Gerede hingibt. Man redet über
Belangloses, nur damit die Zeit vergeht. Man möchte die Zeit nicht spüren, weil man mit der Zeit auch ihre Begrenztheit wahrnehmen würde. In der
Begrenztheit schaut der Tod in unsere Zeit hinein. Er ist die eigentliche Grenze für unsere Zeit. Wir schlagen lieber die Zeit tot, als dem Tod in die
Augen zu schauen. Doch nur wer sich dem Tod stellt, wird die Zeit bewusst wahrnehmen und erleben.
Der Tod zeigt uns, worauf es wirklich ankommt. Wir können nichts mitnehmen, weder unsern Erfolg, noch unsern Besitz, noch die Menschen, die wir
lieben. Wir können nur unsere leeren Hände ausstrecken und uns in liebende Arme fallen lassen. Im Angesicht des Todes können wir ge lassen leben, im
richtigen Abstand zu den Dingen. Unsere Arbeit, unser Besitz, die Menschen um uns herum, alles erhält sein richtiges Maß. Mit dem Tod leben heißt auch,
bewusst und ganz in der Gegenwart leben, spüren, was Leben im letzten ist: ein Geschenk. Es kommt nicht auf unsere Leistung an.
Lebendige Zeit gelingt also nur dem, der den Tod wahrnimmt.
Tot wird die Zeit, wenn der Tod verdrängt wird.
Entschleunigen
W er vertraut, wird nichts beschleunigen wollen« (Jesaja 28,16).
Nicht nur in der Wirtschaft, in allen Bereichen der Gesellschaft wird immer mehr beschleunigt. Weise Menschen setzen dagegen auf
Entschleunigung. Dahinter steht die Erkenntnis, dass der Mensch krank wird, wenn sein Leben immer schneller wird. Der Prophet Jesaja hat schon vor 2 700
Jahren erkannt, dass der Grund aller Beschleunigung und Hast mangelndes Vertrauen ist. Wer vertraut, der lässt die Dinge, wie sie sind. Er traut dem
Wachstum, das im Wesen der Dinge liegt. Die Pflanze wächst nach ihrem inneren Gesetz. Auch der Mensch hat seinen Rhythmus, der für sein Leben passt. Wenn
dieser Rhythmus immer schneller wird, kommt die Seele nicht nach. Sie wird verwirrt. Wer meint, er müsse immer schneller werden, wird letztlich von der
Angst getrieben. Die Angst ist die Triebfeder der Beschleunigung. Wer Angst hat, kann nicht stehen bleiben. Er kann nicht warten. Er kann nicht
zuschauen. Er muss alles selbst in die Hand nehmen, weil er meint, sonst würden sich die Dinge seiner Hand entziehen. Er misstraut allem, was er nicht
selber tut. Und er hat Angst vor den kleinen Unterbrechungen des Alltags. Da würde er ja mit sich selbst konfrontiert. Doch das kann er nicht aushalten,
also muss er immer tätig sein, immer etwas in der Hand haben, was er vor sein Herz halten kann, damit er die Unruhe und Ängstlichkeit seines Herzens nicht
wahrnimmt.
Geschenkte Zeit
M an verliert die meiste Zeit damit, dass man Zeit gewinnen will.«
Es war ein kluger Mann, der das gesagt hat.
Zeit ist Geld. Das ist unser heutiges Motto. Die Arbeit wird nach Minutentakt eingeteilt. In die kurze Arbeitszeit wird alles hineingepackt, damit sie
möglichst effektiv wird. Doch mit der gewonnenen Zeit können die meisten Menschen nichts anfangen. Sie können die Zeit nicht genießen, sondern packen in
ihre Freizeit möglichst viele »events« hinein. Es muss auch in der Freizeit etwas los sein. Man muss die Zeit nützen. Doch wenn man beobachtet, womit die
Zeit genutzt wird, so merkt man, dass es entweder andere Tätigkeiten sind oder aber Vergnügen. Doch bei den vielen Aktivitäten kommt oft nichts
heraus. Und die Vergnügen verhelfen nicht wirklich zur Ruhe. Auch in der Freizeit findet der Mensch keine Ruhe. Er lenkt sich nur ab. Er läuft vor der
eigenen Wahrheit davon. Ruhe findet nur, wer sich seiner inneren Wirklichkeit stellt und sie bejaht, wie sie ist. Wer Zeit wirklich gewinnen will, muss
keine Zeitstrategien entwickeln, wie es im heutigen Management üblich ist. Derjenige gewinnt vielmehr am meisten Zeit, der in jedem Augenblick ganz
präsent ist. Für den gibt es keine verlorene Zeit. Für den ist jede Zeit erfüllte Zeit. Ganz gleich, ob er arbeitet oder nichts tut, ob er liest oder
Musik hört, ob er spazieren geht oder mit seinen Kindern spielt, er ist ganz in dem, was er tut. Er spürt das Geschenk der Zeit, für ihn ist alles
geschenkte Zeit. Er muss die Freizeit nicht der Arbeitszeit abzwingen, für ihn ist jede Zeit freie Zeit, Zeit zu leben.
Reifen lassen
N ur der Geduldige erntet, was reif ist«, so lautet ein afrikanisches Sprichwort. Was es besagt, gilt auch
bei uns: Reifen braucht seine Zeit. Es gibt Früchte,
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