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Das große Haus (German Edition)

Das große Haus (German Edition)

Titel: Das große Haus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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große Haus ließ er in Flammen aufgehen.
    Zweitausend Jahre sind vergangen, pflegte mein Vater mir zu sagen, und heute ist jede jüdische Seele um das Haus herum gebaut, das im Feuer verbrannt ist, so groß, dass sich jeder Einzelne von uns nur an ein winziges Bruchstück erinnern kann: ein Muster an der Wand, einen Ast im Holz einer Tür, eine Erinnerung an den Lichteinfall auf dem Fußboden. Aber wenn alle jüdischen Erinnerungen, die jedes Einzelnen, zusammengebracht und auch das letzte heilige Bruchstück dem Ganzen hinzugefügt würde, könnte das Haus wiederaufgebaut werden, sagte Weisz, oder vielmehr ein so vollkommenes Gedächtnis des Hauses, dass es in seinem Wesen das Original selbst wäre. Vielleicht meinen die Leute das, wenn sie vom Messias sprechen: eine vollkommene Versammlung der unendlichen Teile des jüdischen Gedächtnisses. In der nächsten Welt werden wir alle zusammen im Gedächtnis unserer Erinnerungen wohnen. Aber das gilt nicht für uns, pflegte mein Vater zu sagen. Nicht für dich oder für mich. Wir leben, jeder von uns, damit wir unser Bruchstückchen bewahren, es bewahren im Zustand unaufhörlichen Bedauerns und andauernder Sehnsucht nach einem Ort, von dem wir nur wissen, dass es ihn gegeben hat, weil wir uns an ein Schlüsselloch, einen Ziegel oder daran erinnern, wie abgetreten die Schwelle unter einer offenen Tür war.
    Ich gab Weisz das Notizbuch. Vielleicht hilft es Ihnen weiter, sagte ich. Er hielt es einen Augenblick in der Handfläche, als wollte er sein Gewicht abschätzen. Dann steckte er es in die Tasche. Ich brachte ihn zur Tür. Wenn ich mich Ihnen in irgendeiner Form erkenntlich zeigen kann, sagte er. Aber er gab mir weder seine Karte noch einen anderen Hinweis, wie ich ihn erreichen könnte. Wir reichten uns die Hand, und er wandte sich zum Gehen. Irgendetwas packte mich in einer Weise, dass ich unfähig war, mich zu beherrschen, und ihm nachrief: War er es, der Sie geschickt hat? Wer?, fragte er. Der Lotte den Tisch geschenkt hat. Haben Sie mich über ihn gefunden? Ja, sagte er. Ich begann zu husten. Meine Stimme klang wie jämmerliches Gekrächze: Und ist er noch –? Aber ich brachte es nicht über mich, die Worte auszusprechen.
    Weisz musterte mein Gesicht. Er klemmte den Spazierstock unter den Arm, langte in seine Brusttasche und zog einen Stift und ein kleines Lederetui mit einem Notizblock heraus. Er schrieb etwas nieder, faltete den Zettel in der Mitte zusammen und übereichte ihn mir. Dann ging er in Richtung Straße, aber nach einem Schritt hielt er inne und drehte sich noch einmal um, blickte zu den Fenstern des Dachzimmers hinauf. Er war leicht zu finden, sagte er ruhig, sobald ich wusste, wo ich suchen musste.
    Die Scheinwerfer eines dunklen Wagens, der vor dem Nachbarhaus geparkt war, gingen an und erleuchteten den Nebel. Auf Wiedersehen, Mr.   Bender, sagte er. Ich schaute ihm nach, wie er über den Gartenweg zur Straße lief und sich auf den Rücksitz des Wagens gleiten ließ. Zwischen den Fingern hielt ich das zusammengefaltete Papier mit dem Namen und der Adresse des Mannes, den Lotte einst geliebt hatte. Ich blickte in das feuchte, schwarze Geäst der Bäume hinauf, deren Kronen Lotte von ihrem Schreibtisch aus hatte sehen können. Was hätte sie darin gelesen? Was hätte sie in dieser Schraffur schwarzer Zeichen vor dem Himmel gesehen, welche Echos und Erinnerungen, welche Farben, die ich nie sehen würde? Oder nicht sehen wollte?
    Ich steckte den Zettel in die Tasche, ging ins Haus und schloss sanft die Tür hinter mir. Da es frostig war, nahm ich meinen Pullover vom Haken. Ich schob ein paar Holzscheite in den Kamin, knüllte eine Seite Zeitungspapier zusammen und hockte mich hin, um zu pusten, bis das Feuer richtig brannte. Ich setzte den Wasserkessel auf und goss etwas Milch in Katers Schälchen, das ich draußen im Lichtschein der Küche hinterließ. Behutsam legte ich den zusammengefalteten Zettel vor mir auf den Tisch.
    Und irgendwo knipste der andere seine Lampe an. Setzte den Wasserkessel auf. Blätterte die Seite eines Buchs um. Oder drehte am Sucher seines Radios.
    Wie viel hätten wir einander sagen können, er und ich. Wir, die an ihrem Schweigen mitwirkten. Er, der nie wagte, es zu brechen, und ich, der sich an die gezogenen Grenzen, die errichteten Mauern, die Sperrgebiete hielt, der sich abwandte und nie fragte. Der jeden Morgen dabeistand, sie in den kalten schwarzen Tiefen verschwinden sah und behauptete, er könne nicht schwimmen.

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