1092 - Der Vampirengel
Es hatte in den vergangenen Tagen geschneit, doch die weiße Pracht war nicht liegengeblieben.
Nach dem Matsch war sie weggetaut, und nun schimmerten die Straßen und Wege feucht.
Dagmar nickte Harry zu. »Na, wenn du mitkommen willst, dann bitte jetzt. Du kannst auch im Wagen bleiben und so lange warten, bis ich zurückkomme.«
Er seufzte wieder. »Auch wenn es mir nicht paßt, ich werde dich trotzdem begleiten.«
»Was stört dich denn so?«
Harry überlegte einen Moment und schaute in die Schattenwelt vor dem Wagen hinein. »Das kann ich dir nicht genau sagen. Es ist einfach mein Gefühl, das nicht zustimmen will, Dagmar.«
»Du hast damit auch nichts zu tun!«
»Aber du?«
»Ja, noch einmal. Ich gehe einfach davon aus, daß es zwischen dem Grabengel und mir eine Verbindung gibt.«
»Aber du bist kein Vampir.«
»Nein, das nicht.«
»Wieso sollte dann die Verbindung bestehen? Und überhaupt, einen Grabengel als Vampir. Das habe ich noch nie gehört.«
»Es gibt eben immer ein erstes Mal«, sagte Dagmar und öffnete die Beifahrertür.
Harry Stahl blieb nichts weiter übrig, als ihr zu folgen. Er seufzte zum drittenmal, als er die Tür öffnete und ebenfalls ausstieg. Was sich Dagmar einmal in den Kopf gesetzt hatte, führte sie auch durch. Außerdem war sie eine besondere Frau, denn sie stammte von den Psychonauten ab, einer sehr seltenen Rasse, die damals noch das dritte Auge besessen hatte, durch das sie über bestimmte paranormale Kräfte verfügte, die allerdings bei den heutigen Nachkommen der Psychonauten verkümmert waren, von wenigen Ausnahmen abgesehen.
Zu diesen Ausnahmen gehörte Dagmar Hansen, die mit recht zügigen Schritten auf die Friedhofsmauer zuging. Sie war stabil gebaut, dazu recht hoch und mußte überklettert werden.
An der Mauer wartete sie auf ihren Freund. Dagmar trug eine kurze gefütterte Jacke und dunkle Jeans. Der Schatten der Mauer hüllte sie ein wie ein Tuch, in das bald auch Harry Stahl hineintrat.
Er sah das knappe Lächeln auf ihrem Gesicht, wollte fragen, ob sie es sich nicht noch überlegen wollte, ließ es aber bleiben, denn Dagmar deutete schon zur Krone hoch, und die Bewegung sagte alles.
»Wer klettert zuerst hinauf?«
»Du, und ich helfe dir.«
»Okay!«
Harry legte seine Hände zusammen, damit Dagmar ihren Fuß in diese »Leiter« stellen konnte. Mit dem linken Fuß trat sie hinein, schwang sich daran hoch, reckte die Arme und legte die Hände bereits an die Mauerkante.
»Kann ich dich hochdrücken?«
»Ja.«
Harry stemmte sie hoch. Dagmar bewegte sich geschickt und saß wenig später auf der Krone. Sie schaute sich kurz um, war zufrieden und nickte Stahl zu.
Harry sprang hoch. Er umklammerte die Kante, danach ging alles sehr schnell. Mit einem Klimmzug zog er sich höher. Dagmar unterstützte ihn dabei, und wenig später hatte auch er seinen Platz auf der Mauer eingenommen.
Sie sprangen nicht hinab, sondern hangelten sich an der anderen Seite zu Boden. Dort lagen noch einige schmutzige Schneereste. Sie knirschten wie altes Glas, als Harry einen Fuß hineindrückte und sich umsah.
»Es ist alles ruhig«, sagte Dagmar. »Wir sind allein. Um diese Zeit und bei diesem Wetter treiben sich nicht einmal Grufties oder Schwarze auf dem Friedhof herum,«
»Mal sehen.«
»Du kannst dich auf mich verlassen.« Weil die Haare sie störten, strich Dagmar sie zurück und schnürte sie mit einem Band im Nacken zusammen. Ihr von Natur aus recht blasses Gesicht wirkte bei diesem Licht noch bleicher, aber es war auch angespannt, denn was die beiden vorhatten, war kein Spaziergang. Dieser Engel mußte einfach eine Bedeutung haben, denn Dagmar hatte ihn nicht zufällig entdeckt. Sie war praktisch zu ihm hingeführt worden. Immer wieder hatte sie Botschaften erhalten. Nicht per Brief, Fax oder Telefon, sondern in der Nacht in ihren Träumen. Darin war sie aufgefordert worden, sich um den Engel zu kümmern. Genau das mußte einen Grund haben.
Es war sehr finster um sie herum, und Harry fragte Dagmar noch einmal, ob sie genau wußte, wo sich dieses ungewöhnliche Monument befand.
»An der Ostseite und recht versteckt.«
»Dann müssen wir zuerst nach links.«
»Korrekt - komm!«
Sie schlugen den Weg ein, der im Anfang unbequem war, weil sie zähes Gestrüpp zur Seite biegen mußten, um schließlich einen der normalen Wege zu erreichen.
Der Weg über den sie gingen, war recht breit. Sie hatten keine Schwierigkeiten, dort voranzukommen. Schnee lag nur an den
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