Das grosse Maerchenbuch - 300 Maerchen zum Traeumen
hinabsteigen,“ sprach sie und sah das Mädchen mit boshaften Blicken an, „Küche und Keller muss noch untersucht werden, und hast du etwas vergessen, so sollst du deiner Strafe nicht entgehen.“ Aber das Feuer brannte auf dem Herd, in den Töpfen kochten die Speisen, Kluft und Schippe waren angelehnt, und an den Wänden das blanke Geschirr von Messing aufgestellt. Nichts fehlte, selbst nicht der Kohlenkasten und die Wassereimer. „Wo ist der Eingang zum Keller?“ rief sie, „wo der nicht mit Weinfässern reichlich angefüllt ist, so wird dirs schlimm ergehen.“ Sie hob selbst die FallTüre auf und stieg die Treppe hinab, aber kaum hatte sie zwei Schritte getan, so stürzte die schwere FallTüre, die nur angelehnt war, nieder. Das Mädchen hörte einen Schrei, hob die Türe schnell auf, um ihr zu Hilfe zu kommen, aber sie war hinabgestürzt und es fand sie entseelt auf dem Boden liegen.
Nun gehörte das prächtige Schloss dem Mädchen ganz allein. Es wusste sich in der ersten Zeit gar nicht in seinem Glück zu finden, schöne Kleider hingen in den Schränken, die Truhen waren mit Gold und Silber oder mit Perlen und Edelsteinen angefüllt, und es hatte keinen Wunsch, den es nicht erfüllen konnte. Bald ging der Ruf von der Schönheit und dem Reichtum des Mädchens durch die ganze Welt. Alle Tage meldeten sich Freier, aber keiner gefiel ihr. Endlich kam auch der Sohn eines Königs, der ihr Herz zu rühren wusste, und sie verlobte sich mit ihm. In dem Schlossgarten stand eine grüne Linde, darunter saßen sie eines Tages vertraulich zusammen, da sagte er zu ihr „ich will heimziehen und die Einwilligung meines Vaters zu unserer Vermählung holen; ich bitte dich harre mein hier unter dieser Linde, in wenigen Stunden bin ich wieder zurück.“ Das Mädchen küsste ihn auf den linken Backen und sprach „bleib mir treu, und lass dich von keiner andern auf diesen Backen küssen. Ich will hier unter der Linde warten bis du wieder zurückkommst.“
Das Mädchen blieb unter der Linde sitzen, bis die Sonne unterging, aber er kam nicht wieder zurück. Sie saß drei Tage von Morgen bis Abend, und erwartete ihn, aber vergeblich. Als er am vierten Tag noch nicht da war, so sagte sie „gewiss ist ihm ein Unglück begegnet, ich will ausgehen und ihn suchen und nicht eher wiederkommen als bis ich ihn gefunden habe.“ Sie packte drei von ihren schönsten Kleidern zusammen, eins mit glänzenden Sternen gestickt, das zweite mit silbernen Monden, das dritte mit goldenen Sonnen, band eine Hand voll Edelsteine in ihr Tuch und machte sich auf. Sie fragte aller Orten nach ihrem Bräutigam, aber niemand hatte ihn gesehen, niemand wusste von ihm. Weit und breit wanderte sie durch die Welt, aber sie fand ihn nicht. Endlich vermiethete sie sich bei einem Bauer als Hirtin, und vergrub ihre Kleider und Edelsteine unter einem Stein.
Nun lebte sie als eine Hirtin, hütete ihre Herde, war traurig und voll Sehnsucht nach ihrem Geliebten. Sie hatte ein Kälbchen, das gewöhnte sie an sich, fütterte es aus der Hand, und wenn sie sprach
„Kälbchen, Kälbchen, knie nieder,
vergiss nicht deine Hirtin wieder,
wie der Königssohn die Braut vergaß,
die unter der grünen Linde saß,“
so kniete das Kälbchen nieder und ward von ihr gestreichelt.
Als sie ein paar Jahre einsam und kummervoll gelebt hatte, so verbreitete sich im Lande das Gerücht, dass die Tochter des Königs ihre Hochzeit feiern wollte. Der Weg nach der Stadt ging an dem Dorf vorbei, wo das Mädchen wohnte, und es trug sich zu, als sie einmal ihre Herde austrieb, dass der Bräutigam vorüber zog. Er saß stolz auf seinem Pferd und sah sie nicht an, aber als sie ihn ansah, so erkannte sie ihren Liebsten. Es war als ob ihr ein scharfes Messer in das Herz schnitte. „Ach,“ sagte sie, „ich glaubte er wäre mir treu geblieben, aber er hat mich vergessen.“
Am andern Tag kam er wieder des Wegs. Als er in ihrer Nähe war, sprach sie zum Kälbchen,
„Kälbchen, Kälbchen, knie nieder,
vergiss nicht deine Hirtin wieder,
wie der Königssohn die Braut vergaß,
die unter der grünen Linde saß.“
Als er die Stimme vernahm, blickte er herab und hielt sein Pferd an. Er schaute der Hirtin ins Gesicht, hielt dann die Hand vor die Augen, als wollte er sich auf etwas besinnen, aber schnell ritt er weiter und war bald verschwunden. „Ach,“ sagte sie, „er kennt mich nicht mehr,“ und ihre Trauer ward immer größer.
Bald darauf sollte an dem Hofe des Königs drei Tage
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