Das gruene Gewissen
Gute in der Natur suchen. Gerade weil unser Leben unabhängiger vom Willen der Natur ist als in jeder anderen Epoche zuvor, neigen wir ganz augenscheinlich zur Idealisierung vortechnischer Zustände. Aussteiger-Fantasien gehören zu unserem kulturellen Programm als Korrektiv genauso dazu wie die Faszination an der Technik.
Der wohl bekannteste Aussteiger ist bis heute Henry David Thoreau geblieben, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Wald zog und nur von dem existierte, was die Natur ihm bot. In Deutschland erleben seine Bücher Wilde Früchte , Walden oder Vom Glück durch die Natur zu gehen heute ein Revival. Werden Versuch macht, bei einem der deutschen Online-Shops auf Wilde Früchte zu klicken, kann hier Bücher mit den vertrauten Titeln wiederfinden: Wildkräuter und Heilpflanzen oder auch Selbst versorgt! Gemüse, Kräuter und Beeren aus dem eigenen Garten.
Selbstversorgt mit Kräutern und Beeren, der Rückzug ins Private, die Reduktion unseres Begehrens: Hätten in einem solchen Leben Begriffe wie Genuss, Großzügigkeit, auch Überschwang und Verantwortung noch Platz? Ist unsere Sättigung so groß geworden, dass wir eine Logik vitalen, „natürlichen“ Verlangens ersehnen, was nicht mehr als die Grundversorgung unserer elementarsten Bedürfnisse bedeuten kann?
Mich haben Thoreaus Schilderungen in Walden früher aus anderen, ja romantischen Motiven begeistert, und das meint: aus Widerstand gegen den Gedanken, dass alles Denken über die Natur vor allem nützlich sein müsse. Am Beweis, wie wenig der moderne Mensch für die Wahrung seiner Bedürfnisse wirklich braucht, lag mir weniger. Natur bedeutete geschichtlich betrachtet immer auch Freiheit, Anarchie, Regellosigkeit, zivilen Ungehorsam. Der Pfad nach draußen ins Freie war jener Weg, der aus gesellschaftlichen Konventionen herausführte. „Raus in die Natur“ war ein Gefühl, das aus Liebe und Faszination an der Großartigkeit der Wildnis als einem Raum des Unkontrollierten erwuchs. Es ging darum, über die Stränge zu schlagen. Gerade dadurch unterschätzte man ihre Gefahren – oder wollte sie bewusst unterschätzen, um zu spüren, dass man lebte.
In Sean Penns 2007 erschienenem Kino-Drama Into the Wild wird diese Ambivalenz auf eine besonders ergreifende Weise vorgeführt. Der Film, der nach einer Reportage von Jon Krakauer entstand, hat eine typische Coming-of-Age-Geschichte zum Gegenstand. Er beginnt mit den Bildern der vereisten Wildnis Alaskas, über sie legt sich die Stimme des Pearl-Jam-Sängers Eddie Vedder. Hard Sun lautet der Titelsong des Films, und er ist die Antwort auf die Frage nach dem Pathos der amerikanischen Country- und Rockmusik, die noch immer ein religiöses Momentder Demut vor den schier unergründlichen Weiten der Wildnis kennt. Man erschloss sich diese seit jeher mit Trucks und Motorrädern, Wohnmobilen und Pick-ups; am Anfang dieses Buches war davon bereits die Rede. Bezeichnenderweise ist es ein alter Bus des „Fairbanks City Transit System“ und kein Verschlag aus Holz und Tannengrün, in dem der Filmheld Unterschlupf findet, als der Schnee fällt. Er wird sein Rückzugspunkt in der Natur – nicht umgekehrt.
Krakauers Held stirbt in der Tundra Alaskas, weil er einen Fluss überquert hat, der nach der Schneeschmelze Hochwasser führt. Er findet nichts mehr zu essen und vergiftet sich im Hungerwahn mit Waldbeeren. Wochen später finden Elchjäger seine Leiche. „Gefangen, inmitten der Wildnis“, lauten seine letzten Worte, die er mit schwacher Hand niedergeschrieben hat.
So gesehen ist es die zeitgenössische Ausstiegsmetaphorik, die den Grad der Entfremdung unseres Lebens von der Natur erst anzeigt. Wir wollen und können nicht zurück in die Natur. Aber wir können sie von Zeit zu Zeit bewusst entdecken: nicht als ein mahnendes Gewissen, sondern als Ort der Reflexion und Muße. Denn Landschaften sind auch heute noch mehr als Produktionsräume. Sie können Erinnerungen zurückholen, die sich nach Jahren ganz selbstverständlich wieder einstellen. Wir können sie schön finden, weil wir ihren Elementen einen Platz zuordnen, der uns harmonisch erscheint. „Von einer graugrünen Eiskruste umrandet, atmet der See seine unterirdische Wärme in das schwindende Licht des Tages“, heißt es bei Martin Seel. „So weit ich mich von der Natur entfernt habe, ein einziger Blick bringt mich in ihre Nähe zurück. So ist es mit der Natur – wir müssen uns von ihr entfernt haben, um ihr ästhetisch
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