Das gruene Gewissen
was ein simpler dialektischer Einwand gegen die Naturfrömmelei der Gegenwart ist. Die Sehnsucht nach Natur, schrieb der Theologe Romano Guardini in seinen fiktiven Briefen vom Comer See bereits vor achtzig Jahren zutreffend, ist nichts anderes als ein Kulturergebnis.
In Wahrheit war unsere Existenz nie komfortabler und unabhängiger vom Willen der Natur, und es ist unmissverständlich, dass wir die Natur dadurch aufs Neue vermissen. Wir können Leben verlängern, das unter natürlichen Bedingungen keine Chance auf Überleben hätte. Wir können die Frage der Fertilität neu definieren und Frühstgeborenen mit zwanzig Wochen eine Zukunft geben, zwischen spontanen Hausgeburten und Kaiserschnitten in Hightechkreißsälen entscheiden. Wir können der Natur kleine und große Zugeständnisse abringen. Keine andere Zeit vor uns konnte das in diesem Maße sagen. Keine andere Zeit vor uns schätzte dies zugleich so gering. „Die Natur selbst ist ja nicht schön und sie ist auch nicht gut“, heißt es bei Augstein nicht unähnlich der Engels’schen Dialektik der Natur . „Wir haben allen Grund, innezuhalten und diesen Gedanken zu wägen: In dem Maße, in dem wir glauben, sie besiegt zu haben, leisten wir es uns, die Natur zu beschönigen.“ 133
Joachim Ritter hat diesen Zusammenhang vor einem halben Jahrhundert mit den Worten gefasst, dass der Naturgenuss und die ästhetische Zuwendung zur Natur die Freiheit und die gesellschaftliche Herrschaft über die Natur zwangsläufig voraussetzen. „Freiheit ist Dasein über der gebändigten Natur. Daher kann es Natur als Landschaft nur unter der Bedingung der Freiheit auf dem Boden der modernen Gesellschaft geben.“ 134
Dass wir dies vergessen haben, ist aber eher ein Grund zur Freude als zum Verzweifeln. Denn die ästhetische Wahrnehmung der Natur ist der beste Beweis für einen Weg der Entfremdung, den wir hinter uns haben. Und doch birgt dieser Erfahrungsverlust den Kern der Tendenz, Natur zu trivialisieren und moralisch zu überzeichnen, das Ländliche als Sehnsuchtsort zu verstehen.
Dahinter steckt wie oben gezeigt auch der fatale Irrglaube an eine Überlegenheit des Menschen, den jeder Umweltbewegte freilich bestreiten würde: dass das Natürliche nämlich ohne uns nicht nur besser funktioniere, sondern alles Unheil der Welt auf die technischen Eingriffe in die natürliche Harmonie und Wohlgestalt zurückzuführen ist. Eine solche Haltung ist Ausdruck eines unangebrachten Überlegenheitsgefühls – gerade wenn man glaubt, das Dasein in den Dienst der Natur stellen zu müssen, anstatt primär nach dem menschlichen Wohlbefinden zu fragen. Die Natur ist aber nicht im Naturschutzverein: Diesen Satz schnappte ich mit zehn als Mitglied der „Jungen Ornithologen“ erstmals auf und wusste doch nicht, was er bedeutete. Bis heute.
Es scheint, dass unser Bild der Natur trotz aller Fortschrittsbehauptungen noch immer entlang einiger weniger moralischer Kategorien verläuft. Wir haben diese Kategorien verinnerlicht, fokussieren auf Risiken, die technischer Natur sind. So gut wie nie jedoch geht es um die Kehrseite der Natur selbst, die wir verdrängen, das Harte und Brutale. Denn wir haben die Natur längst „verlernt“.
Wanderung durch die Mark Brandenburg
Es war spät geworden, am Ufer des Sees brannten bereits die Lichter. Ich ging in ein Gasthaus und bestellte etwas zu trinken. An der Wand hing ein Reklameschild für Bier. Darunter saß eine Frau, die so selbstvergessen rauchte, als hätte man sie hingesetzt. Sie war vielleicht Ende vierzig und hatte halblange dunkle Haare. Ihre Brust bewegte sich beim Atmen auf und ab. Mit der linken Hand fuhr sie gedankenversunken über die Zigarettenschachtel, als streichele sie den Kopf eines Knaben. Später lag ich auf dem Bett und schaltete durch das Fernsehprogramm. Es war ein Dokumentarfilm, der in einem der Dritten Programme lief. Man begleitete einen Tierarzt. Der Mann, erfuhr ich, versorgte nicht nur die Milchbetriebe im Umkreis von einhundert Kilometern, sondern auch die Kleintiere in so manchem Dorf.
Die Reportage des Norddeutschen Rundfunks endete mit dem Besuch bei einer alten Frau, deren Schäferhündin nach dem Tod ihres Mannes der einzig noch verbliebene Bezugspunkt war. Aber das Tier war alt geworden und hatte den Bauch voller Geschwüre. Der Arzt schläferte die Hündin vor den Augen der Frau ein und drückte ihr noch kurz die Hand. Dann stieg er ins Auto, er musste zurück zur Milchviehanlage. Die Kamera aber blieb
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